
Wie man wirklich mit einer Emotion sitzt, wenn der ganze Körper fliehen will, wenn der Impuls zu rennen, zu betäuben, sich abzulenken, übermächtig ist.
Die meisten von uns haben nie wirklich gelernt, wie man fühlt. Wir haben lediglich gelernt, wie man verdrängt, wie man vermeidet, wie man sich ablenkt. Doch die moderne Neurowissenschaft und Psychologie sind sich längst einig: Emotionen, die nicht gefühlt werden, verschwinden nicht einfach. Sie werden im Nervensystem gespeichert und beeinflussen – oft unbewusst und dauerhaft – unser Verhalten, unsere Gesundheit und unsere Beziehungen. Unverarbeitete Emotionen aktivieren das Angstzentrum im Gehirn, die Amygdala, und halten den Körper in einem chronischen Alarmzustand. Das wiederum führt langfristig zu innerer Anspannung, zu Reizbarkeit, zu Erschöpfung oder zu emotionaler Taubheit.
In der Psychologie nennt man das emotionale Vermeidung ein Schutzmechanismus, der kurzfristig entlastet, langfristig jedoch genau das schwächt, was wir brauchen: unsere Resilienz, unsere Empathie, unsere Klarheit. Der zentrale Widerspruch ist: Was wir nicht fühlen wollen, kontrolliert uns. Was wir bereit sind zu fühlen, verliert seine Macht.
Sich mit einer Emotion hinzusetzen, also sie bewusst wahrzunehmen, ohne sie sofort wegmachen zu wollen oder direkt zu reagieren, ist kein esoterisches Konzept. Es ist eine Form der neuronalen Integration. Dabei wird der mediale präfrontale Cortex aktiviert. Das ist ein Bereich im Gehirn, der für Selbstwahrnehmung und Regulation zuständig ist. Die Überreaktivität des limbischen Systems nimmt dabei ab. Einfach gesagt: Der Körper lernt, dass es sicher ist zu fühlen. Und genau diese empfundene Sicherheit ist die Grundvoraussetzung für jede Heilung.
Emotionen sind keine Probleme. Sie sind Information. Sie sind Energie in Bewegung. Und wenn wir ihnen Raum geben, können sie ihren natürlichen Zyklus vollenden und innere Klarheit, Ruhe sowie Verbindung wiederherstellen. Fühlen ist keine Schwäche. Es ist gelebte Resilienz. Es ist der Weg zurück zu dir selbst.
Menschen sagen so oft: "Setz dich einfach hin und fühl es." Das klingt, als wäre es leicht – als müsste man sich nur kurz hinsetzen, einmal tief durchatmen, und plötzlich ist man geheilt. Aber wenn du in einem Überlebensmodus aufgewachsen bist, umgeben von Chaos, von Vernachlässigung oder dem ständigen Gefühl, in deinem eigenen Körper nie sicher zu sein, dann kann es sich so anfühlen, als würdest du direkt ins Feuer laufen, ohne Ausweg. Weil Emotionen für dich keine bloßen Gefühle sind. Sie sind echte Bedrohungen.
Vielleicht hast du früh gelernt, dass Gefühle mit Bestrafung verbunden sind. Vielleicht wurde dir Liebe entzogen, wenn du traurig warst. Vielleicht hat dir jemand beigebracht, dass Traurigkeit Schwäche ist oder dass Wut gefährlich ist, je nachdem, wie deine Eltern reagiert haben. Vielleicht hast du gelernt, dass Angst bedeutet, eine Last zu sein. Also hat dein System irgendwann beschlossen: Abschalten ist sicherer. Und heute, wenn dir jemand sagt "Fühl das einfach", dann spannt sich dein ganzer Körper an, dein Geist rast, ein Teil in dir sucht panisch nach dem Ausgang. Nicht, weil du kaputt bist.
Ich höre das so oft: "Ich bin kaputt." Aber das bist du nicht. Du bist nicht kaputt. Ein tieferer Teil in dir schützt dich auf die einzige Weise, die er kennt. Das ist kein Defekt. Das ist eine Schutzfunktion. Ein Überlebensanteil. Und genau deshalb: Wie sitzt man denn nun wirklich mit einer Emotion?
Erster Schritt: Beobachte einfach nur, was gerade auftaucht, ohne es verändern zu wollen. Setze die klare innere Absicht: Ich muss hier nichts reparieren. Also statt dich zu zwingen, bei der Emotion zu bleiben wie bei einer Performance, fang einfach damit an, zu bemerken. Was passiert gerade in deinem Körper? Gibt es Enge? Druck? Taubheit? Welche Gedanken tauchen auf? "Ich pack das nicht." "Das ist zu viel." "Ich muss hier raus." Auch das einfach nur beobachten, nicht bewerten. Das ist Schritt eins.
Zweiter Schritt: Finde den Teil in dir, der sich wehrt. Meist ist da ein innerer Anteil, der keine Lust hat, sich mit dieser Emotion auseinanderzusetzen. Vielleicht ist er ungeduldig, genervt oder schon halb auf der Flucht. Statt ihn zu unterdrücken, wende dich ihm zu. Sag innerlich etwas wie: "Ich sehe dich. Du willst mich beschützen. Ich versteh dich." Auch das ist ein Teil von dir. Kein Feind. Schritt zwei.
Dritter Schritt: Gib der Emotion ein bisschen mehr Raum. Zwing dich nicht, ewig drin zu bleiben. Sag deinem System: "Ich bleibe jetzt nur 60 Sekunden hier – und wenn’s zu viel wird, steige ich wieder aus." Und dann: Bewege dich ruhig. Atme. Du musst nicht regungslos sein. Auch kleine Dosen sind Fortschritt.
Vierter Schritt: Finde die Emotion unter der Emotion. Wut schützt oft Traurigkeit. Taubheit schützt oft Angst. Angst schützt oft Ohnmacht. Wenn es sich sicher anfühlt, frag dich: "Was liegt darunter?" Nicht analysieren. Neugierig sein. Und du wirst eine Antwort bekommen.
Fünfter Schritt: Lass die Emotion einfach durch dich hindurchfließen, ohne sie zu beschleunigen, ohne sie zu bewerten. Gib ihr Raum, dich zu durchströmen, wie eine Welle, ohne etwas daraus machen zu müssen. Denn wir wurden oft konditioniert, dass Emotionen etwas über uns aussagen. "Wenn ich traurig bin, bin ich kaputt." "Wenn ich so wütend bin, bin ich außer Kontrolle." "Wenn ich Angst habe, bin ich schwach." Aber das stimmt nicht. Eine Emotion ist nur Energie. Sie ist nicht böse. Sie ist nicht gefährlich. Sie ist einfach da. Und wenn du ihr Raum gibst, wenn du aufhörst, gegen sie zu kämpfen, dann kann sie sich wandeln.
Das ist es, was ich in meinen Programmen zeige. Was ich selbst seit Jahren praktiziere. Und oft kommt die Frage: "Was, wenn ich’s noch nicht aushalte?" Dann sage ich: Dann ist das okay. Es ist ein Muskel. Du trainierst ihn. Dass du versuchst, etwas zu fühlen, was früher unmöglich war – das allein ist schon Heilung. Niemand hat dir beigebracht, wie man fühlt. Also erinnere dich: Auch wenn es chaotisch ist. Auch wenn du hundertmal rein- und rausgehen musst – ich musste das bei meiner Scham machen, über drei Monate lang, sehr intensiv – es lohnt sich.
Denn je öfter du es tust, desto mehr lernt dein System: Emotionen sind keine Bedrohung mehr. Und wenn dieser Punkt kommt, verändert sich alles.
Ich hoffe, irgendetwas davon hat etwas in dir berührt. Probier es aus. Und denk daran: Das Licht in mir sieht das Licht in dir.
Joe Turan
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Danke 💚
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