
Du solltest niemals für immer die Person bleiben, von der du dachtest, dass du sie werden musst. Du solltest jemand werden, nur um sie wieder zu überwinden. Und das nicht nur einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder und wieder, solange du lebst und fühlst.
Denn wir leben in einer Zeit, in der Identität nicht mehr nur eine persönliche Erfahrung ist. Sie ist auch eine Performance, eine Ware, eine Erklärung, ein Überlebensmechanismus geworden.
"Ich bin queer."
"Ich bin Ex-Evangelikaler."
"Ich bin nicht-binär."
"Ich bin Atheist."
"Ich bin neurodivergent."
"Ich bin Ex-Mormone."
Und für einen Moment vielleicht sogar für eine ganze Weile, können diese Worte Befreiung sein. Sie bringen Ordnung in das innere Chaos. Sie geben Struktur, wo Schmerz formlos war. Sie benennen, was zuvor nicht sagbar war. Sie schaffen Grenzen, ermöglichen Würde und geben uns das Recht auf Selbstbestimmung. Aber das gilt nur für einen Moment.
Denn jede Identität, so heilig oder hart errungen sie auch sein mag, ist letztlich nur eine Phase. Sie ist kein Zuhause für immer. Kein endgültiger Ort. Sie ist ein Floß und irgendwann wirst du das Ufer erreichen und musst lernen zu schwimmen.
Psychologisch gesehen kann man die Phase der Identitätsbildung nicht überspringen. Du musst wissen, wer du bist, bevor du es aushalten kannst, es nicht mehr genau zu wissen. Das ist keine Metapher, sondern wissenschaftlich gut belegt.
Ohne ein klares Gefühl für das eigene Selbst gibt es keine Grenze zwischen dir und der Welt. Kein klares Nein. Keine Möglichkeit zu erkennen, was zu dir gehört und was nicht. Besonders nach Trauma, religiöser Kontrolle oder emotionaler Verstrickung ist es essenziell, eine Identität zu formen. Du musst deinen Namen kennen, bevor du aufhören kannst, ihn zu brauchen.
Aber was passiert, wenn wir anfangen, das Gerüst mit dem Zuhause zu verwechseln?
In älteren psychologischen Modellen hieß es, die gesündesten Menschen seien jene, die sich nie verändern. Eine stabile Persönlichkeit, ein konsistenter Ausdruck, dieselben Werte in jedem Umfeld. Warum? Weil sich die Forschung damals meist auf eine bestimmte Menschengruppe stützte. Weiße, stoische Männer, oft älter, die als Idealbild psychischer Reife galten. Distanziert. Rational. Unverändert. Doch das war keine psychische Gesundheit, sondern eine kulturelle Projektion.
Die neueren Modelle der Psychologie, besonders in den letzten fünfzig Jahren, zeigen ein ganz anderes Bild. Die gesündesten Menschen sind nicht jene, die gleich bleiben. Sondern diejenigen, die sich wandeln. Die sich anpassen. Die zulassen, dass unterschiedliche Seiten von ihnen in verschiedenen Kontexten sichtbar werden. Nicht um zu gefallen, sondern um der Komplexität des Lebens gerecht zu werden.
Ein starkes Selbst bedeutet nicht "Ich bin immer gleich". Es bedeutet: "Ich kenne mich gut genug, um mich verändern zu dürfen."
Und genau hier liegt die Krise: Die junge Generation wird dazu gezwungen, anzukommen, bevor sie überhaupt gewandert ist. Sie soll sich definieren, bevor sie erforscht hat. Sie soll sich branden, bevor sie geblutet hat. Mit sechzehn sollst du bereits eine Nische haben, eine Haltung, eine Ästhetik, einen politischen Standpunkt, einen Trauma-Lebenslauf und eine durchdachte Online-Präsenz.
Aber Identität funktioniert nicht nach Zeitplan. Werdung braucht Stille. Umherirren. Fehler. Das Recht, sich zu widersprechen. Zu sagen "Ich weiß es nicht". Verschwinden. Wiederkehren – verändert.
Doch wie soll das gehen, wenn du die ganze Zeit gesehen wirst?
Die heilige Nest-Phase also der geschützte Raum, in dem ein junger Mensch ausprobieren, scheitern, sich verschieben und wachsen konnte ist verschwunden. Was bleibt, ist permanente Sichtbarkeit. Und in ständiger Sichtbarkeit gibt es keinen Raum fürs Werden. Es bleibt nur der Druck, etwas zu sein.
Wenn du dich zu sehr an deine Identität klammerst und deinen Wert daran bindest, dieses oder jenes zu sein, dann hörst du auf zu wachsen. Du beginnst, dich selbst zu kuratieren statt zu erforschen. Du managst Wahrnehmung statt Erfahrung zu vertiefen. Du wirst spröde. Jeder Widerspruch, jede neue Reaktion, jede kleine innere Verschiebung wird zur Bedrohung dessen, was du zu sein glaubst.
So wird Selbstbewusstsein zur Selbstzensur. Heilung zur Show. Und Freiheit zur engeren Leine.
Eine der reifsten und gleichzeitig spirituell klarsten Antworten auf die Frage nach Identität kam von Tilda Swinton. Oft gefragt, wie sie ihre Queerness definiere, weicht sie aus. Sie sagt: "Ich bin im Wandel." Immer. Noch am Entdecken. Noch neugierig. Noch am Expandieren.
Diese Weigerung war kein Zeichen von Verwirrung, sondern von tiefer Klarheit. Swinton versteht, was viele übersehen: Sich dem finalen Etikett zu entziehen ist kein Mangel an Selbst, sondern ein Akt der Ehrfurcht. Ein Kniefall vor dem wilden Mysterium des Menschseins.
Und genau davon brauchen wir mehr. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern in uns selbst. In unseren Beziehungen. In der Art, wie wir junge Menschen begleiten. In unserem Umgang mit Wandel.
Wenn du aus Angst davor lebst, was andere über dich denken könnten, oder davor, dass eine Veränderung dich als inkonsequent, schwach oder verloren erscheinen lässt, dann wird genau diese Angst dein Leben auf eine grausame Weise formen.
Du wirst süchtig nach der Sicherheit des Immergleichen. Du wirst neue Informationen abwehren, die dein Weltbild bedrohen. Du wirst in Freundschaften, Bewegungen oder Ideologien verharren, die deinem Wachstum längst nicht mehr dienen. Du wirst dich selbst kleinhalten im Namen der "Authentizität". Du wirst die Neugier verlieren, die dich einst lebendig gemacht hat. Und vielleicht am schlimmsten: Du wirst deine Überlebensstrategie mit deiner Seele verwechseln.
Aber da gibt es eine gesündere Wahrheit. Du darfst in verschiedenen Räumen verschieden sein. Das macht dich nicht falsch, es macht dich menschlich. Du darfst deine Meinung ändern. Das macht dich nicht schwach, sondern bewusst. Du darfst deinem früheren Selbst widersprechen. Das macht dich nicht unzuverlässig, sondern lebendig.
Denn das ist keine Identitätskrise. Das ist genau das, wofür Identität immer gedacht war. Sie soll dich halten, bis du dich selbst halten kannst. Und dann darf sie sich auflösen.
Du bist nicht hier, um jemand Bestimmtes zu werden. Du bist hier, um dich zu erinnern, wer du warst, bevor die Welt dir sagte, du müsstest etwas Bestimmtes sein. Du bist hier, um so weit, so wild, so roh zu leben, dass jede Version von dir echt sein darf und dann weiterzuziehen.
Denn wer du bist, ist nicht der Name, den du gewählt hast. Nicht das Label, das du trägst. Nicht die Überzeugung, die du verteidigst.
Wer du bist, ist das, was bleibt,
wenn die Performance endet
und du trotzdem da bleibst.
Joe Turan
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