Warum sollte ein Mann darum bitten, im Gefängnis bleiben zu dürfen..

Veröffentlicht am 10. Juli 2025 um 06:28

Warum sollte ein Mann darum bitten, im Gefängnis bleiben zu dürfen, nachdem ihm die Freiheit geschenkt wurde? 

 

In Die Verurteilten (The Shawshank Redemption - 1994) wird Brooks Hatlen nach fünfzig Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Ein freier Mann, endlich. Keine Mauern. Keine Befehle. Kein Alltag. Und doch ist der erschütterndste Moment nicht sein Abschied aus dem Gefängnis. Es ist der stille Zerfall, der danach folgt. Brooks tritt in eine Welt hinaus, die sich ohne ihn weitergedreht hat. Die Geschwindigkeit, der Lärm, die Möglichkeiten sie befreien ihn nicht. Sie lähmen ihn.

 

Als ihn ein Mitinsasse zu seiner Entlassung beglückwünscht, hält Brooks ihm ein Messer an den Hals. Nicht aus Wut. Aus Verzweiflung. Er versucht, das System zu zwingen, ihn zurückzunehmen. Er will die Struktur. Das Vertraute. Die Abwesenheit von Entscheidung. "Ich habe keine Wahl", sagt er. Aber er spricht nicht vom Gefängnis. Er spricht von der Freiheit.

 

Später schreibt er einen Brief an seine Freunde im Gefängnis. Die Welt draußen macht ihm Angst. Alles bewegt sich zu schnell. Die Stadt ist überwältigend. Selbst Lebensmittel in Tüten zu packen eine einfache Aufgabe, erscheint ihm unmöglich. Brooks, so erkennen wir, war nicht schwach. Er war institutionalisiert. Sein Körper war frei. Sein Wesen nicht. Er war nicht mehr in der Lage, zu wählen, weil er fünfzig Jahre lang nicht wählen musste. Jeder Akt im Gefängnis war geplant. Definiert. Angeordnet. Jetzt, in einer Welt ohne Struktur, erfordern selbst kleinste Handlungen Tee oder Milch zuerst? eine Entscheidung. Für Brooks war das keine Befreiung. Es war Folter.

 

Schließlich ritzt Brooks "Brooks war hier" in das Holz und hängt sich auf. Die Botschaft ist nicht nur ein Name. Sie ist ein Versuch zu beweisen, dass er existiert hat. Dass er etwas war. Dass er zählte.

 

Das ist existentielle Angst: der Zusammenbruch, der passiert, wenn du keinen Sinn mehr in deiner Erfahrung finden kannst. Wenn die Strukturen, auf die du dich verlassen hast, verschwinden und du zum ersten Mal allein vor der Frage stehst: Wer bin ich? Warum bin ich hier?

 

Wenn man die meisten Menschen fragt, wer sie sind, antworten sie mit dem, was sie tun. "Ich bin Lehrer." "Ich bin Vater." "Ich bin Manager." Das sind Rollen. Keine Identitäten. Wenn diese Rollen wegfallen durch Rente, Arbeitslosigkeit, Trennung was bleibt dann? Oft: nichts Bekanntes. Die Menschen trauern nicht um den Job. Sie trauern um den Zusammenbruch des Sinns.

 

Sartre rahmte diesen Zusammenbruch durch die Idee, dass das "Dasein der Essenz vorausgeht". Du wirst nicht mit einem Zweck geboren. Du erschaffst ihn durch deine Entscheidungen. Bedeutung wird nicht entdeckt. Sie wird gebaut. Aber das bedeutet Verantwortung. Du bist nicht, was andere dir gesagt haben. Du bist, was du zu sein wählst.

 

Brooks war jemand im Gefängnis. Der Bibliothekar. Der Helfer. Er hatte einen Zweck. Draußen war er nur ein alter Mann. Niemand fragte ihn etwas. Niemand brauchte ihn. Die Struktur, die seinem Leben Form gab, war weg. Er konnte frei wählen, aber war nie darauf vorbereitet worden. Und so fühlte sich das, was wir Freiheit nennen, für ihn wie Erstickung an.

 

Albert Camus bietet eine andere Perspektive. In Der Mythos des Sisyphos schreibt er über einen Mann, der dazu verurteilt ist, einen Felsen auf einen Berg zu rollen, für immer. Er erreicht den Gipfel, der Fels rollt wieder herunter. Die Arbeit ist sinnlos. Die Mühe absurd. Camus fragt: Ist Selbstmord die einzig logische Antwort in einer Welt ohne Sinn?

 

Er sagt nein. Das Absurde ist real, aber nicht tödlich. Selbstmord ist Aufgabe. Die mutige Tat ist es, weiterzumachen. Nicht weil das Leben Sinn ergibt, sondern weil du dich entscheidest, trotzdem zu leben. Du wirst frei, wenn du die Absurdität akzeptierst und trotzdem auftauchst. Camus sagt: Stell dir Sisyphos glücklich vor.

 

Doch nicht alle Existenzialisten sind Atheisten. Kierkegaard schlug einen anderen Weg vor. Er sah das Leben als drei konzentrische Kreise: den ästhetischen, den ethischen und den religiösen. Die meisten Menschen bleiben im ästhetischen Kreis stecken, Vergnügen, Ablenkung, Oberfläche. Einige steigen in den ethischen auf Pflicht, Moral, Verantwortung. Aber der höchste Kreis, so Kierkegaard, ist der religiöse: der Sprung des Glaubens.

 

Es geht nicht um blinden Glauben. Es geht darum, sich für den Glauben zu entscheiden, wenn die Welt keine Beweise liefert. Wie Abraham, der bereit war, seinen Sohn zu opfern. Nicht aus Logik oder Gesetz, sondern aus Vertrauen. Dieser Sprung ist für Kierkegaard der höchste Akt des Selbst. Eine Entscheidung, kein Trost.

 

Alle drei Denker Sartre, Camus, Kierkegaard weisen auf dieselbe Schwelle hin: einen Moment, in dem übernommene Bedeutung zerbricht. Du kannst dich nicht länger auf Tradition, Religion oder soziale Struktur verlassen, um deine Identität zu definieren. Du musst der Leere ins Auge blicken. Und in diesem Raum musst du entscheiden.

 

Nietzsche fügte eine weitere Dimension hinzu. Als er sagte: "Gott ist tot", feierte er nicht. Er warnte. Ohne eine göttliche Quelle für Moral müssen Menschen ihr eigenes Gesetz werden. Er nannte das den Aufstieg des "Übermenschen"—eines Menschen, der seine eigenen Werte, seine eigene Bedeutung und Richtung erschafft. Nicht übernommen. Nicht aufgezwungen. Gewählt.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg explodierte die Existenzphilosophie. Die Welt hatte Völkermord, Atombomben und massenhafte Vertreibung erlebt. Die Menschen glaubten nicht mehr an vorgefertigte Ideale. Sie brauchten Denkmodelle, die den Zusammenbruch überleben konnten. Die das Trauma erklären konnten. Die auf die Frage antworten konnten: Wie soll ich leben, wenn alles, worauf ich vertraute, zerstört ist?

 

Das ist es, was Brooks passiert ist. Keine Schwäche. Kein Wahnsinn. Ein Mann, dem die Freiheit gegeben wurde, ohne auf sie vorbereitet worden zu sein. Ein Mann, dem seine Rolle genommen wurde, der sich in einer Welt unendlicher Möglichkeiten ohne jede Anleitung wiederfand. Er hat nicht versagt. Er ist in einer nicht gewählten Bedeutungslosigkeit ertrunken.

 

Wir alle tragen dieses Risiko. Ob bewusst oder nicht, unsere Identitäten sind oft an Strukturen gebunden, die wir nicht selbst gewählt haben. Jobs. Familien. Soziale Normen. Wenn diese zusammenbrechen und das tun sie immer bleiben wir mit der Frage zurück: Und jetzt?

 

Die Antwort ist nicht einfach. Aber sie beginnt hier: Bedeutung wird nicht gegeben. Sie wird geschmiedet. Durch Entscheidung. Durch Verantwortung. Durch den Mut, der Angst vor der Freiheit standzuhalten.

 

Als Brooks seinen Namen ins Holz ritzte, versuchte er zu beweisen, dass er existiert hatte. Aber Bedeutung kommt nicht durch Beweise. Sie kommt durch Schöpfung. Durch Gegenwart. Durch die Entscheidung, zu sein, wenn niemand zuschaut.

 

Das ist es, was die Existenzphilosophie uns lehrt. Nicht, wie man glücklich ist. Sondern wie man echt ist. Wie man im Angesicht der Leere wach bleibt. Wie man nicht nur fragt: "Wer bin ich?", sondern: "Warum entscheide ich mich, dies zu sein?"

 

Und das ist es, womit sich jeder von uns konfrontieren muss. Nicht mit Angst. Sondern mit dem ruhigen Mut, zu werden, wofür uns nie eine Karte gegeben wurde.

 

Brooks konnte es nicht. Aber vielleicht können wir es noch.

 

Joe Turan 

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