
Ich denke, verstanden zu werden ist intimer als geliebt zu werden und auch wenn das nicht immer zutrifft, ist es doch oft wahr. Besonders dann, wenn Liebe zur Projektion wird. Menschen sagen "Ich liebe dich“, wenn sie in Wahrheit meinen: "Ich liebe die Vorstellung von dir, die ich mir bereits im Kopf zusammengebaut habe.“ Diese Version ist selten zutreffend und wird oft von Verlangen, Timing, persönlicher Geschichte oder davon geformt, wofür die andere Person steht, nicht wer sie ist. Verstanden zu werden widersetzt sich dem. Es beruht nicht auf Fantasie. Es erfordert Aufmerksamkeit, Mustererkennung und die Fähigkeit, klar zu sehen.
Ich denke, verstanden zu werden bedeutet auch, dass jemand über deine Oberfläche hinausgegangen ist. Dass er wirklich kartografiert hat, wie du denkst, den Aufbau deiner Sätze erkennt und die Logik hinter deinen Widersprüchen nachvollzieht. Diese Person reagiert nicht einfach auf das, was du sagst sie verfolgt, was du meinst. Diese Erfahrung ist seltener als Liebe und invasiver. Denn um geliebt zu werden, kannst du etwas vorspielen. Du kannst eine Version von dir anbieten, die du so formst, wie du glaubst, dass der andere sie will. Aber um verstanden zu werden, musst du sichtbar sein. Und Sichtbarkeit wenn sie echt ist liegt niemals völlig in deiner Kontrolle.
Jean-Paul Sartre beschreibt das in seinem Konzept des Blicks. Es geht nicht darum, bewundert zu werden, sondern darum, als Objekt im Bewusstsein eines anderen wahrgenommen zu werden. Du bist nicht mehr nur ein Subjekt, das sich durch die Welt bewegt, du bist zu etwas Festem und Äußerem geworden, das interpretiert werden kann. Für Sartre beginnt hier die Übelkeit. Das Unbehagen beginnt nicht damit, gesehen zu werden, sondern mit dem Verlust der Souveränität. Du existierst nun in zwei Versionen: in deiner eigenen Vorstellung und in der des anderen. Und die zweite Version gehört nicht dir. Und trotzdem wollen die meisten Menschen gesehen werden. Es gibt dieses Grundbedürfnis, anerkannt zu werden, registriert zu sein in der Wahrnehmung eines anderen mit Fürsorge. Doch dieses Verlangen geht immer einher mit der Angst, missverstanden zu werden. Gesehen werden zu wollen und kontrollieren zu wollen, wie man gesehen wird sind zwei völlig verschiedene Dinge. Und sie stehen ständig in Spannung zueinander. Genau dort beginnt Intimität. Nicht die dramatische, sondern die leise, tiefere Art. Wenn dir jemand etwas spiegelt, das sich richtig anfühlt. Nicht großzügig, nicht romantisch sondern präzise. Es ist im Grunde ein kleiner Beweis, dass deine innere Welt für jemanden lesbar ist.
In diesem Sinne schreibt Clarice Lispector. Ihr Werk versucht nicht, etwas zu lösen oder zu erklären. Es widersetzt sich der Vereinfachung. Sie schreibt das Denken, während es sich entfaltet. Es ist wackelig, widersprüchlich, ständig auf der Suche. Sie sagte einmal: "Ich erreiche Einfachheit nur mit enormem Aufwand.“ Und dieser Aufwand ist immer spürbar. Sie versucht ständig, etwas in Worte zu fassen, das sich eigentlich der Sprache entzieht. Etwas Vormediales, fast Körperliches. Und wenn es gelingt, fühlt es sich nicht wie eine Erklärung an sondern wie ein Wiedererkennen. Nicht "Ich verstehe das“, sondern: "Ich habe das auch gefühlt.“ Und dieses Gefühl entsteht nicht durch Klarheit, sondern durch Berührung. Und ich glaube, genau das macht Clarice so einzigartig: ihre Weigerung, Gedanken zu einem Ende zu bringen. Sie kreist, widerspricht, überarbeitet und das Schreiben wird zum Protokoll der Aufmerksamkeit. Nicht auf eine Lösung hin, sondern auf ein Erleben für sie als Schreibende und für dich als Lesende.
Und genau das ist auch intellektuelle Intimität. Es ist kein Konsens und keine geteilte Meinung, sondern eine strukturelle Ausrichtung. Es ist wie eine Frage, die nur dann Sinn ergibt, wenn jemand wirklich über dich nachgedacht hat. Nicht über dich hinweg, nicht um dich herum sondern mit dir. Und wenn das geschieht, ist es zutiefst destabilisierend. Weil es alles umgeht, was du sonst benutzt, um Wahrnehmung zu steuern. Und wenn jemand die Form deines Denkens auf diese Weise erkennt, dann ist es, als ob er die Form deines Geistes sieht, bevor sie zu Gedanken geglättet wurde. Ab diesem Punkt ist es extrem schwer, wieder in eine Rolle zu verfallen. Und genau deshalb wird intellektuelle Intimität so selten als Intimität erkannt. Sie sieht von außen nicht nach Verbindung aus. Sie ist etwas ganz anderes. Und anders, weil sie oft das Einzige ist, das bleibt: der Satz, den du nicht vergessen kannst, der Moment, der dich auf eine bestimmte Art berührt hat. Der Moment, in dem du dich erkannt fühltest nicht emotional, sondern kognitiv. Und nicht, weil dich jemand geliebt hat, sondern weil er etwas Wahres gesehen hat und es benannt hat.
Nicht, weil dich jemand geliebt hat, sondern weil er etwas Wahres gesehen hat und es benannt hat.
Und wenn das einmal passiert ist, vergisst du es nicht.....nicht, weil es zärtlich war, sondern weil es exakt war. Und weil es exakt das war, was du gefühlt hast.
Joe Turan
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