Die Frage ist also nicht nur, was du fühlst. Die Frage ist, was dein Sehen formt.

Veröffentlicht am 25. Juli 2025 um 18:06

Wir leben in unsichtbaren Strukturen, die bestimmen, was wir fühlen, oft bevor wir es merken. Viele glauben, ihre Emotionen entstehen einfach so, dass Wut oder Mitgefühl direkt aus dem Moment kommen. In Wahrheit sind sie schon festgelegt durch die Art, wie wir die Welt sehen.

 

Die Frage ist also nicht nur, was du fühlst. Die Frage ist, was dein Sehen formt.

 

Zwei Frauen, zwei Welten

 

Nehmen wir Anna und Sophie.

 

Anna wuchs mit Geschichten über erfolgreiche Unternehmerinnen auf. Sie bewunderte deren Ehrgeiz, ihren Willen und ihre Disziplin. Sie lernte früh, dass das Leben nichts schenkt. Stärke, harte Arbeit und Verantwortung für sich selbst wurden ihr Maßstab. Für sie gab es zwei Arten von Menschen: die, die gestalten, und die, die gestaltet werden. Ein Leben ist, so glaubte sie, das Ergebnis eigener Entscheidungen und Handlungen. Man erntet, was man sät.

 

Sophie wuchs in einem Umfeld voller Fürsorge auf. Sie las spirituelle Texte über Mitgefühl, Liebe und Gemeinschaft. Ihre Mutter brachte ihr bei, dass wir verpflichtet sind, einander zu helfen. Sophie war überzeugt, dass wir Verantwortung füreinander tragen und die Glücklicheren den weniger Glücklichen beistehen sollten.

 

Eines Tages standen beide in einem Supermarkt in derselben Situation: Vor ihnen an der Kasse stand eine Frau mit einem Kind, die ihre Geldbörse vergessen hatte.

 

Anna sah darin ein Versäumnis. In ihren Augen hätte man seine Finanzen im Griff haben müssen. Sie dachte an schlechte Organisation, Unachtsamkeit und mangelnde Selbstverantwortung. Sie fühlte Ärger, weil Hilfe in ihrer Welt Verantwortungslosigkeit fördern würde.

 

Sophie sah eine überforderte Mutter. Sie dachte an Stress, an die Last des Alltags, an wie leicht einem so etwas passieren kann. Sie fühlte Mitgefühl, weil Helfen in ihrer Welt eine Pflicht ist. Sie griff in ihre Tasche und bezahlte.

 

Zwei völlig verschiedene Reaktionen. Auf dieselbe Situation.

 

Die unsichtbare Struktur

 

Warum fühlten sie so unterschiedlich? Weil Emotionen aus Bedeutungen entstehen. Und diese Bedeutungen stammen aus den Konzepten und Werten, die wir gelernt haben.

 

Anna hatte gelernt, Härte mit Stärke zu überwinden. Ihr Ärger dient diesem Weltbild, er treibt sie an, selbst stark zu bleiben und andere zu Disziplin zu bewegen.

 

Sophie hatte gelernt, Härte mit Mitgefühl zu begegnen. Ihre Traurigkeit und Empathie dienen diesem Weltbild, sie treiben sie an, zu helfen.

 

Keine von beiden kannte die ganze Geschichte dieser Mutter. Sie fragten nicht nach. Sie hörten nicht zu. Sie dachten nicht daran, dass diese Situation weder nur auf Nachlässigkeit noch nur auf Pech reduziert werden kann. Ihre Gefühle kamen nicht von dem, was tatsächlich passiert war, sondern von den Geschichten in ihren Köpfen.

 

So läuft es bei uns allen. Wir sehen die Welt durch kulturelle Brillen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Diese Muster werden automatisch. Wir denken, wir reagieren auf die Realität, dabei reagieren wir auf unsere Interpretation.

 

Die Fähigkeit, anders zu sehen

 

Was passiert, wenn du diese Brille erweiterst? Wenn Anna spirituelle Texte gelesen hätte statt Erfolgsbiografien, wären ihre Gefühle vielleicht anders gewesen. Wenn Sophie in einer Kultur aufgewachsen wäre, die nur Selbstständigkeit schätzt, wären ihre Gefühle vielleicht anders gewesen.

 

Das ist emotionale Meisterschaft. Nicht Gefühle unterdrücken oder mit reiner Willenskraft besiegen. Sondern anders sehen lernen, damit neue Gefühle möglich werden.

 

Wer neue Konzepte in seine Welt lässt, entdeckt neue Perspektiven und damit neue Emotionen. Darum ist es wichtig, sich auszutauschen, zuzuhören und sich auch auf Ideen einzulassen, die ungewohnt oder unbequem sind.

 

Das Bild, das du falsch liest

 

Stell dir ein einfaches Diagramm mit Linien vor, die in einem bestimmten Winkel angeordnet sind, sodass dein Gehirn sofort ein Pfeilmuster erkennt, das nach links zeigt. In Wirklichkeit sind es nur einzelne Linien, die gar keinen Pfeil bilden. Dein Gehirn ergänzt ihn automatisch, weil es gelernt hat, Pfeile so zu sehen. Ohne dieses Konzept würdest du den Pfeil gar nicht wahrnehmen.

 

Im Leben funktioniert es genauso. Du fühlst nicht das, was wirklich da ist, sondern das, was dein Gehirn daraus macht, basierend auf dem, was du schon weißt.

 

Wenn du neue Konzepte lernst, siehst du neue Muster im Leben, die du vorher nicht erkennen konntest. Und wenn du anders siehst, fühlst du anders.

 

Zuhören als Training für Emotionen

 

Emotionale Meisterschaft beginnt damit, Perspektiven zu hören, die dir fremd sind. Es bedeutet, nicht sofort zu urteilen, sondern zu verstehen, wie andere sehen. Das kann heißen, Menschen aus anderen Kulturen zuzuhören, Bücher außerhalb deiner Weltanschauung zu lesen oder Menschen, die du sonst schnell beurteilst, nach ihrer Geschichte zu fragen.

 

Das Ziel ist nicht, Anna oder Sophie zu sein. Sondern beides sein zu können, je nach Situation, oder jemand ganz anderes, wenn es nötig ist. Es geht um mehr Wahlmöglichkeiten, mehr emotionale Bandbreite und die Fähigkeit, zu antworten statt automatisch zu reagieren.

 

Deine Emotionen sind kein Zufallsprodukt. Sie werden konstruiert, basierend auf dem, was du gelernt hast zu sehen. Und du kannst ändern, was du siehst. Du kannst neue Perspektiven aufnehmen, die dein emotionales Leben tiefgreifend verändern.

 

Höre den Menschen zu, die du normalerweise übergehst. Lies, was du sonst ablehnen würdest. Geh in die Höhle, vor der du dich am meisten fürchtest. Wie Joseph Campbell sagte: "Die Höhle, die du zu betreten fürchtest, birgt den Schatz, den du suchst.“

 

Emotionale Meisterschaft heißt nicht Kontrolle. Es heißt Freiheit, anders zu sehen, anders zu fühlen und anders zu leben.

 

Joe Turan 

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