Jeder Moment des Überdenkens verbirgt einen stillen inneren Kampf

Veröffentlicht am 15. Oktober 2025 um 20:04

Jeder Moment des Überdenkens verbirgt einen stillen inneren Kampf, einen Konflikt nicht mit der Situation selbst, sondern mit dem Bild, das du von dir trägst. Wenn dein Geist kreist und sich in Gedanken verliert, liegt der Grund selten in dem, was tatsächlich passiert ist. Es liegt daran, dass etwas in dem Geschehen bedroht, wie du dich selbst siehst.

 

Die Frage, die diesen Nebel durchdringen kann, ist einfach, aber tief:

„Welches Bild von mir selbst versuche ich in diesem Moment verzweifelt zu schützen und warum?“

 

Diese Frage verlangt radikale Ehrlichkeit. Sie lenkt den Fokus weg von der äußeren Geschichte wer was gesagt hat, wer Recht hatte, wer dich missverstanden hat hin zu der tieferen Schicht, in der Identität, Ego und Selbstwert liegen.

 

Jeder Mensch trägt eine Selbstgeschichte in sich. Eine Erzählung, die wir über Jahre, oft unbewusst, darüber geschrieben haben, wer wir sind und wie die Welt funktioniert. Diese Geschichte verleiht dem Leben Kohärenz und Vorhersehbarkeit. Sie ist das Gerüst, das unser Selbstgefühl zusammenhält. Doch sie macht uns auch verletzlich. Denn wenn diese Geschichte in Frage gestellt wird, eilt der Verstand zu ihrer Verteidigung.

 

Stell dir vor, du führst eine Diskussion mit jemandem. Ihr seid uneinig, beendet das Gespräch höflich, aber in deinem Kopf läuft es weiter. Du kannst nicht loslassen. Du rekonstruierst Argumente, stellst dir neue Antworten vor, entwirfst Monologe, um eine Diskussion zu gewinnen, die längst vorbei ist.

 

An diesem Punkt geht es nicht mehr um das Thema. Es geht um Identität.

 

Etwas in dieser Begegnung hat einen Nerv getroffen, eine Stelle, an der dein Selbstwert verankert ist. Vielleicht die Überzeugung: „Ich bin derjenige, der Bescheid weiß“, oder „Ich bin die ruhige, rationale Person“, oder „Ich bin die faire und freundliche.“ Wenn jemand oder etwas dieses Selbstbild herausfordert, schaltet sich deine Psyche in den Schutzmodus. Grübeln wird zur Methode, um Kohärenz zu bewahren.

 

Es ist eine Überlebensreaktion, nicht des Körpers, sondern des Egos.

 

Wenn du dich fragst: „Welches Bild von mir versuche ich gerade zu schützen?“, betrittst du Bewusstsein. Du gehst von in der Geschichte sein zu die Geschichte sehen. Diese Verschiebung verändert alles.

 

Angenommen, du erkennst, dass du in dieser Diskussion dein Bild als „intelligenter Mensch“ schützen wolltest, derjenige, der Dinge versteht. Darunter könnte eine tiefere Angst liegen: „Wenn ich nicht der Kluge bin, was bin ich dann wert?“ Diese Angst ist oft alt. Sie wurde in der Kindheit geformt, als „gut“, „clever“ oder „hilfsbereit“ sein Liebe oder Bestätigung brachte. Du hast gelernt, dass Wert etwas ist, das du beweisen musst.

 

Grübeln ist dann das Symptom einer alten Strategie, ein Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen, wenn dein Selbstbild wackelt.

 

Jedes Mal, wenn die Welt dir etwas spiegelt, das deinem inneren Narrativ widerspricht, zieht sich dein System zusammen. Der Körper reagiert zuerst: flacher Atem, Anspannung in der Brust, innere Unruhe. Dann schaltet sich der Geist ein, analysierend, verteidigend, erklärend, alles im Dienst der psychologischen Sicherheit.

 

Das Ironische ist: Was du zu schützen versuchst, ist selten wirklich bedroht. Du verlierst keine Intelligenz, wenn jemand anderer Meinung ist. Du verlierst keinen Wert, wenn jemand dich nicht versteht. Was du verlierst, ist die Illusion, Kontrolle darüber zu haben, wie du wahrgenommen wirst.

 

Und diese Illusion ist das, wovon das Ego lebt.

 

Wenn du diesen Mechanismus mit Mitgefühl statt mit Urteil betrachtest, öffnet sich Raum für Veränderung. Denn Bewusstsein unterbricht den Kreislauf. Du musst nicht mehr jedem ängstlichen Gedanken glauben, der auftaucht. Du kannst ihn als Spiegel der Identitätserhaltung sehen, als Versuch der Psyche, ein stabiles „Ich“ festzuhalten.

 

In der Therapie beginnt hier die eigentliche Transformation. Wenn Menschen beginnen, ihr Grübeln nicht mehr als Schwäche, sondern als Selbstschutz zu erkennen, hören sie auf, gegen sich selbst zu kämpfen. Sie lernen, in Momenten der Reaktivität innezuhalten und zu sagen: „Etwas in mir fühlt sich gerade unsicher.“ Das ist die Sprache der Selbstreflexion. Sie bringt das Nervensystem aus der Verteidigung und hinein in Bewusstheit.

 

Du kannst das üben, indem du beobachtest, welche Themen beim Grübeln auftauchen. Fühlst du oft den Drang, Recht zu haben? Gemocht zu werden? Ruhig zu erscheinen? Stark zu wirken? Diese wiederkehrenden Muster zeigen dir, welches Selbstbild du am heftigsten verteidigst.

 

Und sobald du es siehst, kannst du weich werden.

 

Du erkennst, dass du kein Bild beweisen oder schützen musst. Du darfst einfach menschlich sein, manchmal falsch, manchmal missverstanden, manchmal unsicher. Paradoxerweise entsteht genau daraus die psychologische Sicherheit, die das Ego immer gesucht hat.

 

Das Grübeln wird nicht leiser, weil die Welt aufhört, dich zu triggern, sondern weil du aufhörst, eine Identität zu verteidigen. Denn dann ist Meinungsverschiedenheit keine Bedrohung mehr. Sie ist eine Einladung, dich selbst tiefer zu sehen.

 

Wachstum beginnt dort, wo dein Selbstwert nicht länger davon abhängt, wie gut deine Geschichte vor den Augen anderer besteht.

 

Beim nächsten Mal, wenn du dich in Gedanken verlierst, halte inne und frage dich:

„Welche Version von mir verteidige ich gerade?“

Vielleicht erkennst du, dass das Selbst, das du verteidigst, gar keinen Schutz braucht.

 

Joe Turan

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