Was passiert, wenn man eine sexuell unterdrückte Frau mit Mutterproblemen nimmt und sie in eine Welt voller Regeln, Klaviere und Disziplin einsperrt? Man bekommt Michael Hanekes Die Klavierspielerin. Dieser Film ist durchdrungen von Carl Jungs Philosophie. Ich habe ihn viele Male gesehen. Der Film ist beinahe eine klinische Studie über Persona und Schatten. In Carl Jungs Sprache ist die Persona die öffentliche Maske, die gesellschaftlich akzeptierte Version des Selbst, die Lob, Status und Anerkennung einbringt. Erikas Maske ist makellos. Sie ist brillant, unantastbar, präzise. Ihre Haltung ist steif, ihr Ausdruck kontrolliert. Sie unterrichtet mit Schärfe und hohen Standards. Sie funktioniert, buchstäblich und emotional.
Doch in ihrer privaten Welt ist nichts sauber. Sie verletzt sich selbst. Sie versteckt sich in Peepshow-Kabinen. Sie masturbiert, während sie ein benutztes Taschentuch eines Fremden hält. Sie schnüffelt am Mantel eines Schülers. Das sind keine Perversionen. Das sind Durchbrüche. Die eng geschnürte Persona presst sie so stark zusammen, dass ihre erotische Energie, ihre Aggression, ihre Trauer und ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit kein gesundes Ventil finden. Also sickern sie seitlich heraus, durch Heimlichkeit, Schmerz, Rituale und Kontrolle.
Es geht hier nicht um Kink. Es geht um Trauma.
Das sexuelle Verhalten in Erikas Fall ist zwanghaft, nicht ausdrucksstark. Es gibt keine Freiheit, keine Freude, kein Leben darin. Jede Geste ist mit Spannung überladen. Ihr Verlangen ist nicht integriert, es ist abgespalten, eingeschlossen in einem privaten Keller, der sich nur in Momenten des Zusammenbruchs öffnet. Sie masturbiert nicht mit Lust. Sie tut es, als würde sie sich selbst bestrafen. Ihre Fantasien drehen sich um Erniedrigung, Machtumkehr, Kälte. Das sind keine zufälligen Vorlieben. Das sind Blaupausen.
Und diese Blaupause wurde in ihrem Zuhause geschrieben.
Da ist auch die Mutter, die Wohnung, die verschlossene Badezimmertür. Es ist sehr klaustrophobisch. Nach Jung ist das der Archetyp der verschlingenden Mutter. Ein Elternteil, das sich an einen klammert und einen nicht zur eigenen Person werden lässt. Erika ist ein Kind im Haus ihrer Mutter. Und in der Konzerthalle ist sie nur eine perfekte Maschine, aber dazwischen gibt es keinen Ort, an dem sie einfach existieren darf.
Dann kommt Walter, und Erika projiziert all ihr unterdrücktes Selbst, ihren Schatten, auf ihn. Als sie beginnt, ihn hereinzulassen, wird sie nicht weich oder verspielt. Sie wird kontrollierend, kalt und skriptgesteuert. Sie überreicht ihm einen Brief, in dem sie eine sadomasochistische Szene beschreibt, die er Wort für Wort mit ihr durchspielen soll. Keine Verhandlung, gemeinsames Spiel oder Miteinander. Sie will die Kontrolle nur zu ihren Bedingungen abgeben. Es ist keine Einladung. Es ist eine Forderung, getarnt als Hingabe.
Als Walter sich weigert mitzumachen, fällt sie auseinander.
Der Zusammenbruch ist unvermeidlich. Wenn die Persona alles ist und der Schatten nie begegnet wird, muss irgendwann etwas brechen. Erika weiß nicht, wie man Liebe, Sexualität, Autonomie und Selbstsein miteinander integriert. Sie kann die Rolle der Frau, der Lehrerin, der Geliebten spielen. Aber sie kann sich innerhalb dieser Rollen nicht fühlen, ohne in Panik oder Kontrolle zu geraten. Das ist kein Charakterfehler. Das ist ein Nervensystem, geformt von Kontrolle, Geheimhaltung und emotionalem Ersticken.
Der Horror des Films liegt nicht in dem, was Erika tut. Er liegt darin, wie vertraut es ist.
Viele Menschen, besonders Frauen, die in Umgebungen von Kontrolle, Perfektionismus und emotionaler Abhängigkeit aufgewachsen sind, werden Teile von Erika wiedererkennen. Die zwanghafte Selbstüberwachung. Die sexuelle Scham. Die Sehnsucht nach Hingabe, eingewickelt in die Angst vor Auslöschung. Die Unfähigkeit, jemandem genug zu vertrauen, um wirklich gesehen zu werden.
Haneke bietet keine Erlösung. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist die Offenlegung. Und die Botschaft, psychologisch gesehen, ist erschreckend präzise:
Wenn die Maske zur Identität wird und der Schatten keine Stimme hat, kehrt er in Form von Symptomen zurück. Wenn dein Verlangen keinen Platz in deinem Leben findet, wird es sich in etwas Scharfes und Fremdes verdrehen. Wenn deine Kindheit eine Performance war, wird dein Erwachsensein nicht wissen, wie man zur Ruhe kommt.
Und das Erschreckendste an dem Film ist, dass es nicht nur Erikas Geschichte ist. Jeder von uns könnte in der gleichen Lage sein, wenn wir versuchen, nur perfekt, nur diszipliniert, nur akzeptabel zu sein. Wie Carl Jung sagen würde, wenn du den Schatten ablehnst, auf welche Weise auch immer, wird er dich finden.
Erika zerbricht nicht, weil sie schwach ist. Sie zerbricht, weil sie niemals ganz sein durfte.
Joe Turan
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