Darf ich existieren?

Veröffentlicht am 7. November 2025 um 19:18

 

Ich habe mit Menschen gearbeitet, deren Ursprung Vergewaltigung war. Deren erster Atemzug nicht in Liebe, sondern in Verletzung geschah. Ich habe ihre Tränen gehalten, ihren zitternden Zorn, ihre stummen Fragen: "Gehöre ich?" "Bin ich erlaubt?" Diese Frage liegt im Schnittpunkt von Scham und Menschsein.

 

Die Last der Anfänge

 

Ein gewaltsamer Akt mag am Anfang beteiligt gewesen sein. Doch dieser Moment bestimmt nicht den Wert eines Lebens. Der Ursprung trägt Leid. Ein Leben, das in diesem Leid geboren wurde, trägt Sein, nicht Bruch. Der Akt war ohne Liebe. Die Person, die daraus entstand, ist nicht lieblos. Gewalt ist nicht Autor deiner Existenz. Eine Wunde kann deinen Ursprung markieren. Aber sie definiert nicht deinen Wert. Der Akt hatte kein Einverständnis, keine Fürsorge. Dein Leben wurde nicht erfragt. Und doch bist du hier. Vielschichtig. Voll. Menschlich.

 

Trauma hinterlässt Spuren, bevor Worte entstehen. In Therapie sehen wir, wie ein Narrativ im Unbewussten lebt, lange bevor es Sprache findet. Konzeptionen, die in Gewalt geboren wurden, übersetzen sich zu tiefen Geschichten: "Ich bin ein Fehler." "Ich bin unerwünscht." "Ich sollte gar nicht existieren." Diese sind emotionale Fußabdrücke, keine Wirklichkeit. Sie sind Antworten eines Nervensystems, das versucht hat, das Unfassbare zu überleben. Manchmal getragen durch die Mutter. Manchmal ohne ein gesprochenes Wort weitergegeben.

 

Scham, Stigma und das Schweigen zwischen Leben

 

Scham liegt schwer in Körpern, die aus unerwünschten Anfängen stammen. Sie flüstert ständig: "Du bist weniger." "Du bist ein Zufall." "Niemand hat dich verlangt." In manchen Gemeinschaften erleben Kinder aus Vergewaltigung oder ungewollter Schwangerschaft offene Ablehnung, geflüsterte Beleidigungen, sozialen Ausschluss. In Konfliktregionen, Ost-Kongo, Ruanda, Uganda, sind Kinder aus Kriegsvergewaltigungen etikettiert, stigmatisiert und marginalisiert worden. Gemeinschaften verweigern ihnen mitunter grundlegende Akzeptanz. Studien wie "Growing up under a shadow: Key issues in research on and treatment of children born of rape" dokumentieren, wie diese jungen Leben zu sekundären Opfern von Trauma, Exposition und Identitätsbruch werden.

 

Ursprung und Identität entwirren

 

Wenn du ein Kind aus Vergewaltigung oder ungewollter Schwangerschaft bist: Dein Anfang ist ein Teil deiner Geschichte. Aber nicht alles. Die Gewalt, die dich einführte, besitzt kein Veto über dein Werden. Du kannst ihr Echo tragen. Ohne ihr deine Zukunft zu überlassen. Du kannst trauern um das, was fehlte, Liebe, Einwilligung, Bestätigung, und dennoch in Würde stehen. Du kannst Scham benennen, sie aussetzen, fühlen. Nicht um sie zu tragen, sondern um sie zu erblicken. Dieses Erblicken löst ihren Griff.

 

Dein Leben, dein Anspruch

 

Du bist nicht der gewalttätige Akt, der deine Konzeption verursachte. Du bist, was durch ihn floss. Du bist Atem. Du bist Möglichkeit. Du hast ein Recht zu existieren. Nicht als Erlaubnis anderer. Nicht als Aufhebung der Scham. Sondern als dein eigener leiblicher Anspruch. Blut und Knochen. Seele. Diese Welt ist zu klein, wenn sie dich nicht halten kann.

 

Wenn du diese Geschichte trägst, lass dein Schweigen brechen. Lass jemand zuhören. Lass dein Leben mehr sein als Ursprung. Lass deine Präsenz zu deiner Bestätigung werden. Lass deine Geschichte gesprochen, bezeugt, gesehen sein. Du musst es nicht länger allein tragen.

 

Und wir, der Rest von uns, wir haben eine Rolle zu spielen

 

Wir können aufhören, wegzusehen. Wir können Geschichten wie diese mit Zärtlichkeit begegnen. Statt mit Mitleid. Wir können aufhören, diese Leben als mahnende Fußnoten zu behandeln. Wir können aufhören zu flüstern, wenn wir über Herkunft sprechen. Wir können Räume anbieten, in denen Identität nicht über Scham weitergegeben wird.

 

Gemeinschaften können verändern, wie sie sprechen, wie sie bezeugen, wie sie solche Geschichten halten. Lehrerinnen und Lehrer. Partnerinnen und Partner. Therapeutinnen und Therapeuten. Freundinnen, Freunde. Geschwister. Liebende. Wir alle tragen die Möglichkeit, Würde zurückzuspiegeln.

 

Nimm nicht an, was jemand über seinen Anfang fühlt. Frag. Höre. Sei langsam. Sei behutsam mit dem Schweigen. Verlange nicht, dass sie ihren Schmerz so überwinden, dass er annehmbar wird. Erlaube ihnen, in voller Widersprüchlichkeit zu existieren, würdig, wütend, lebendig.

 

Wenn du in einem Moment der Liebe, Fürsorge oder Wahl gezeugt wurdest, das macht dein Leben nicht wertvoller. Es stellt dich nicht über jemanden, der aus Vergewaltigung, Nötigung oder Abwesenheit geboren wurde. Die Umstände der Empfängnis messen keinen menschlichen Wert. Sie sind ein Ereignis. Kein Urteil.

 

Ein Kind geboren durch Vergewaltigung. Ein Kind geboren in einer ungewollten Ehe. Ein Kind geboren in Schweigen oder Scham. Keines dieser Leben ist minderwertig.

 

Wir verdienen unseren Wert nicht durch den Weg, auf dem wir kamen. Jeder Mensch trägt gleichen Wert. Weil Existenz selbst Quelle dieses Wertes ist. Dieser Wert wird nicht verliehen. Er wird nicht über Herkunftsgeschichten weitergegeben. Er lebt im Atem. Er lebt in der Präsenz.

 

Es gibt keine Geburten zweiter Klasse. Keine abgewerteten Leben. Nur Menschen. Wir alle. Navigieren die Komplexität des Lebens.

 

Und wenn wir aufhören, Wert aufgrund des Ursprungs zu vergeben, beginnen wir endlich, kollektiv zu heilen.

 

Joe Turan

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