Wenn du glaubst, dass die Wutausbrüche deines Kindes einfach nur "schlechtes Benehmen" sind, dann lies bitte weiter ..

Veröffentlicht am 12. Juni 2025 um 15:32

Wenn du glaubst, dass die Wutausbrüche deines Kindes einfach nur "schlechtes Benehmen" sind, dann lies bitte weiter – denn was, wenn dieser Ausbruch kein Trotz ist, sondern ein Nervensystem in Not? Was, wenn das, was wir als Fehlverhalten deuten, in Wahrheit die stille Folge einer tiefgreifenden, unbewussten Überforderung ist – verursacht durch kulturelle Normen, denen wir blind folgen, obwohl sie der Entwicklung des kindlichen Gehirns massiv widersprechen?

 

In einer Schule irgendwo wirft ein Kind einen Stuhl, beißt ein anderes oder versinkt in Apathie – und sofort wird disziplinarisch gedacht, doch aus Sicht der Neurowissenschaften handelt es sich hier nicht um ein „Verhalten“, das korrigiert werden muss, sondern um ein biologisches Alarmsignal: das kindliche Stresssystem schlägt an.

 

Im Zentrum dieses Prozesses steht die Amygdala – ein mandelförmiger Teil des limbischen Systems, verantwortlich für die Verarbeitung von Angst und Bedrohung, blitzschnell und vorbewusst aktivierend. In den ersten Lebensjahren jedoch – genauer gesagt in den ersten ein bis drei Jahren – ist sie noch nicht vollständig aktiv, und das ist auch gut so, denn das kindliche Gehirn ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage, Stress eigenständig zu regulieren.

 

Deshalb ist es in fast allen traditionellen Kulturen üblich, dass Babys am Körper der Mutter getragen werden, gestillt, gehalten, reguliert – nicht aus Sentimentalität, sondern weil durch diese körperliche Nähe die Amygdala ruhig gehalten wird. Sie wird geschützt. Entwickelt sich langsam, sicher, in einem Rahmen, in dem Reize dosiert und überschaubar bleiben.

 

Doch was tun wir heute? Wir trennen Mutter und Kind oft schon wenige Wochen nach der Geburt, geben Babys in die Fremdbetreuung, „trainieren“ sie mit Schlafprogrammen, die bedeuten, dass sie ihre Not allein aushalten müssen – in der Hoffnung, sie würden dadurch unabhängig. Dabei übersehen wir, dass genau diese Praktiken die Amygdala viel zu früh aktivieren, was dazu führt, dass sie überdimensional wächst, überempfindlich wird und Stressreize nicht mehr richtig verarbeiten kann.

 

Ein überaktiviertes Stresszentrum in der frühesten Kindheit bedeutet nicht nur kurzfristige Unruhe – es verändert die Architektur des Gehirns nachhaltig. Die Amygdala beginnt, harmlose Reize als Bedrohung zu interpretieren. Das nennt man in der Fachsprache „limbisches Kindling“ – eine chronische Übererregung des emotionalen Systems, die später zu Wut, Rückzug, Angststörungen oder psychosomatischen Beschwerden führen kann.

 

Wenn ein Kind also mit sechs Jahren ausrastet, schlagen oder sich zurückziehen will, sollten wir nicht fragen: „Was ist mit dem Kind los?“, sondern: „Was musste dieses Nervensystem ertragen, wofür es noch nicht bereit war?“

 

Denn wir sprechen hier nicht von Erziehung – sondern von Neurobiologie. Nicht von Trotz – sondern von Überforderung. Nicht von Charakter – sondern von Stressregulation.

 

Die ersten Lebensjahre sind kein Spielraum für elterliche Experimente – sie sind ein empfindliches biologisches Fenster, in dem sich die Grundlagen emotionaler Stabilität formen. Wird in dieser Zeit das Stresssystem immer wieder aktiviert, sei es durch Schreienlassen, Isolation oder fremde Umgebung ohne sicheren Bezug, dann sendet der Körper des Kindes eine Botschaft an das Gehirn: „Du bist allein.“

 

Und genau das verankert sich tief.

 

Wenn wir wirklich gesunde, emotional reife, soziale Menschen aufziehen wollen, müssen wir aufhören, frühkindliche Überforderung als Normalität zu betrachten. Wir müssen verstehen, dass Selbstregulation nicht aus dem Nichts entsteht – sie wird gelernt, durch Bindung, durch Co-Regulation, durch Nähe. Und dass ein Kind, das nicht getröstet wird, nicht lernt, sich selbst zu beruhigen – sondern lernt, dass sein Kummer niemanden interessiert.

 

Die Amygdala – dieses kleine „Schmuckstück“ im Gehirn – verdient Schutz. Und wir als Gesellschaft müssen uns fragen, ob unsere Art zu leben und zu erziehen diesem Schutz überhaupt gerecht wird. Denn die Wahrheit ist: Viele von uns kämpfen noch heute mit den Spuren eines Nervensystems, das schon im ersten Lebensjahr lernen musste, stillzuhalten, wenn es eigentlich hätte schreien dürfen.

 

Wie kannst du dein Kind bestmöglich unterstützen?

 

1. Körperkontakt ist Regulation – kein Verwöhnen

 

Trage dein Baby regelmäßig im Tragetuch oder in der Babytrage – besonders in den ersten 12 Monaten.

 

Haut-zu-Haut-Kontakt (sogenanntes "Kangarooing") ist besonders in den ersten Lebenswochen ideal.

 

Nähe ist keine Schwäche – sie ist ein biologisches Sicherheitsnetz für das unreife Nervensystem.

 

Warum es wirkt:

Der enge Körperkontakt aktiviert beim Kind den ventralen Vagusnerv, welcher das parasympathische Nervensystem stimuliert – das heißt: Beruhigung, Sicherheit, emotionale Integration. Gleichzeitig bleibt die Amygdala ruhig und in ihrer gesunden Reifung.

 

2. Kein „Schreienlassen“ – sondern Co-Regulation in der Nacht.

 

Reagiere zuverlässig auf nächtliches Weinen, besonders im ersten Jahr.

 

Verzichte auf Schlaftrainingsmethoden wie „Ferbern“, „Cry it out“ oder kontrolliertes Schreienlassen.

 

Wenn das Baby nachts weint, nimm es in den Arm, wiege es, sprich ruhig mit ihm – auch wenn du selbst müde bist.

 

Warum es wirkt:

Wenn ein Baby schreit, bedeutet das physiologisch: Die Amygdala ist aktiv – Cortisol (Stresshormon) steigt an. Ohne Trost kann sich das Nervensystem nicht beruhigen. Co-Regulation durch die Bezugsperson ist notwendig, damit sich das autonome Nervensystem des Kindes kalibriert und die Amygdala nicht dauerhaft übererregt wird.

 

3. Reizreduktion im Alltag – weniger ist mehr

 

Vermeide zu viel Bildschirmzeit, Geräusche, wechselnde Bezugspersonen oder übermäßige visuelle Reize.

 

Schaffe eine ruhige, klare, vorhersehbare Umgebung: wenig wechselnde Reize, feste Routinen, ruhige Stimmen.

 

Auch Spielzeuge: Weniger ist mehr – lieber ein paar hochwertige, einfache Dinge als ständige Reizflut.

 

Warum es wirkt:

Die Amygdala reagiert auf Reizüberflutung mit chronischer Aktivierung. Ein reizarmes Umfeld ermöglicht es dem präfrontalen Kortex (Verstand, Reflexion) und dem Hippocampus (Gedächtnis) überhaupt erst, sich gesund zu entwickeln. Das schützt langfristig vor Überforderung, Angst und Dysregulation.

 

4. Sichere Bindung fördern – täglich & intuitiv

 

Augenkontakt, Gesichtsspiegelung („Du bist müde, ich seh’s dir an…“)

 

Empathische Sprache, auch wenn das Kind noch nicht sprechen kann.

 

Reagieren, nicht bewerten.

 

Trösten, statt zu erziehen im akuten Stressmoment.

 

Warum es wirkt:

Bindung ist Biochemie. Durch liebevolle, feinfühlige Reaktionen schüttet das Kind Oxytocin und Endorphine aus – Neurochemikalien, die die Amygdala dämpfen und emotionale Sicherheit aufbauen. Diese frühe Bindung ist das Fundament für Selbstwert, Beziehungsfähigkeit und Stresskompetenz.

 

5. Stress „dosieren“ – nicht vermeiden, aber begleiten

 

Frustration darf sein – aber immer in einem regulierbaren Maß und in Begleitung.

 

Beispiel: Wenn dein Kind etwas nicht darf, benenne ruhig und liebevoll das „Nein“, aber bleibe emotional präsent.

 

Lass dein Kind emotionale Spannungen erleben, ohne es allein damit zu lassen.

 

Warum es wirkt:

Nur durch das Begleiten kleiner Frustrationen lernt das Gehirn, dass Stress regulierbar ist. Aber wenn die Überforderung zu groß ist und keine Co-Regulation stattfindet, wird die Amygdala übererregt. Ziel ist: Toleranzfenster langsam erweitern, nicht Grenzen mit Gewalt „durchziehen“.

 

6. Frühbetreuung mit Bedacht wählen (wenn nötig)

 

Wenn Betreuung nötig ist: Wähle möglichst kleine Gruppen mit festen Bezugspersonen.

 

Übergangszeit nicht unterschätzen – begleite dein Kind in der Eingewöhnung aktiv und empathisch.

 

Lieber wenige Stunden täglich mit Qualität als viele Stunden mit wechselnden Personen.

 

Warum es wirkt:

Eine sichere, konstante Bindungsperson ist das Gegengewicht zur Stressaktivierung. Wenn ein Kind keinen echten Bindungsanker hat, wird die Amygdala ständig auf Alarmmodus geschaltet – auch wenn das Kind äußerlich „funktioniert“.

 

Teile diesen Artikel, wenn du glaubst, dass mehr Eltern verstehen sollten, was in der kindlichen Seele wirklich passiert.

 

Joe Turan 

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