Was passiert, wenn du aufhörst, vor dir selbst wegzulaufen

Veröffentlicht am 24. Juni 2025 um 12:50

Die meisten Menschen stehen nicht eines Morgens auf und entscheiden bewusst: "Heute verlasse ich mich selbst." Es ist keine Wahl, die man trifft, sondern eine Anpassung, eine tief verankerte Überlebensstrategie, die sich in das Nervensystem eingeprägt hat, lange bevor wir überhaupt Worte für das hatten, was mit uns geschieht. Wir laufen vor uns selbst davon, weil es irgendwann in unserem Leben gefährlich geworden ist, bei uns selbst zu bleiben, zu intensiv, zu roh, zu viel, und wir lernten durch Traumata, emotionale Vernachlässigung oder das ständige Gefühl von Nicht-Gesehenwerden, dass unsere innere Welt kein sicherer Ort ist. Uns wurde vermittelt, dass zu viel zu fühlen bestraft wird, dass Bedürfnisse zu Konflikten führen und dass ehrliches, ungeschütztes Zeigen von uns selbst Ablehnung, Chaos oder Lächerlichkeit nach sich zieht.

 

Also begannen wir, uns abzuspalten. Nicht sichtbar für andere, wir funktionierten weiterhin, lächelten, leisteten, passten uns an, doch innerlich begann ein stiller Krieg, ein unaufhörliches Ringen zwischen den Teilen in uns, die fühlen wollten, und jenen, die alles fühlende unterdrückten. Zwischen dem inneren Kind, das um Nähe und Anerkennung ringt, und dem Erwachsenen, der in Panik gerät, sobald sich echte Verbindung anbahnt. In der Psychoanalyse spricht man hier von Fragmentierung. In der Traumatherapie nennt man es Schutzanteile, Exiles oder auch Erstarrung. Im Alltag zeigt es sich als Burnout, als übertriebene Leistungsbereitschaft, emotionale Taubheit, unterschwellige Wut, Helfersyndrom, Süchte, Vermeidung, psychosomatische Symptome, dissoziatives Verhalten, als Beziehungen, die immer gleich enden, oder als kontrolliertes Chaos, das wir irrtümlich für Leidenschaft halten, während Kontrolle oft das ist, was wir mit Sicherheit verwechseln.

 

Das Ergebnis all dessen ist, dass wir zwar leben, aber uns selbst nicht bewohnen. Wir bewegen uns durch unser Leben, funktionieren nach außen, aber innerlich bleiben wir abgeschnitten, weit entfernt vom Kern unseres Wesens.

 

Und dann, meist nicht dramatisch, sondern schleichend, leise, beginnt der Körper zu sprechen und sagt: Es reicht. Nicht mit klaren Worten, sondern mit Signalen, die nicht länger ignoriert werden können: Panikattacken, chronische Erschöpfung, eine Haut, die sich unbewusst vor Berührung zurückzieht, Beziehungen, die sich immer wieder auf dieselbe Weise auflösen, Süchte, die sich nicht mehr verbergen lassen, eine seltsame, nagende Leere, die selbst mit der größten Anstrengung nicht gefüllt werden kann.

 

Das ist kein persönliches Scheitern. Das ist der Moment, an dem der Feedback-Loop beginnt. Der Moment, in dem der Körper sich erinnert an das, was der Verstand mühsam verdrängt hat, an das, was unterdrückt wurde, um funktionieren zu können. Und genau in diesem Moment, wenn wir bereit sind hinzusehen, beginnt etwas Tiefgreifendes. Nicht weil wir plötzlich sicher sind, sondern weil die Energie, mit der wir uns so lange gegen unsere eigene Wahrheit gestellt haben, schwerer geworden ist als das, was wir verdrängen wollten. Diese Schwelle markiert den eigentlichen Anfang von Heilung. Es ist keine Transformation im romantisierten Sinne. Es ist eine Rückkehr.

 

Das, was wir Erwachen nennen, wenn wir es wirklich ehrlich meinen, ist nichts anderes als der schmerzhafte, oft schmerzlich langsame Prozess, in dem wir beginnen, die abgespaltenen Teile unseres Selbst wieder zu integrieren. Die Fragmente. Die verdrängten Echos. Die Zwänge, denen wir jahrzehntelang blind gehorcht haben. Die Trauer, die wir mit Logik gedeckelt haben. Die Wut, die sich gegen uns selbst richtete. Die Traurigkeit, die sich ihren Weg durch den Körper gebahnt hat und dort in Symptomen lebendig geblieben ist.

 

Wir gehen zurück, zurück durch das Dickicht unserer Schutzmechanismen, unserer Überlebensstrategien, und langsam beginnen wir zu erkennen, dass nichts davon sinnlos war. Jede Krankheit, jeder gescheiterte Beziehungsversuch, jedes Zurückziehen, jede scheinbar toxische Anziehung, jede unerklärliche Synchronizität, nichts davon war Zufall. Es waren Antworten. Antworten auf etwas, das wir ohne es zu wissen gesendet haben.

 

Wenn dieses Verständnis wirklich in uns greift, dann verschiebt sich alles. Wir beginnen, dem Feedback zuzuhören, ohne es sofort abzuwehren. Wir hören auf, uns selbst zu pathologisieren, und fangen an, die tiefe Intelligenz in unseren Mustern und Wiederholungen zu sehen. Wir nehmen unseren Platz wieder ein, nicht als Opfer der Vergangenheit, sondern als Architekt unseres inneren Systems.

 

Und ich sage das nicht theoretisch, sondern als Therapeut, als Mann, als Mensch, der mit Hunderten von Klient*innen gesessen hat, und mit Tausenden eigenen Schatten: Trauma ist nicht nur das, was dir passiert ist. Es ist das, was du werden musstest, um damit leben zu können. Es sind die Masken, die du so lange getragen hast, dass du vergessen hast, wie sich deine eigene Haut anfühlt. Es ist das Schweigen, das du geschluckt hast, die Scham, die du verinnerlicht hast, die Strategien, die dich einst geschützt haben, und dich heute gefangen halten.

 

Heilung ist selten ordentlich. Sie ist oft nicht ruhig. Sie ist nicht linear. Heilung ist meist ein Konvergenz-Sturm, ein gewaltiger, innerer Aufbruch, in dem all die verstoßenen Teile deines Selbst zurückkehren. Sie kommen nicht schüchtern, nicht einzeln. Sie kommen gleichzeitig. Hungrig. Wild. Misstrauisch. Und sie wollen nicht erklärt werden. Sie wollen gehalten werden.

 

Und Wahrheit? Wahrheit schreit nicht. Sie flüstert. Immer wieder. Sie zeigt sich in Mustern. In Wiederholungen. In Feedback, das du vielleicht als "schlechtes Timing" oder "Pech" abtust. Bis du, wenn du bereit bist, innehältst. Nicht für immer. Nicht perfekt. Aber lang genug, um zu hören. Und was du hörst, ist dein eigenes Signal, das, was unter dem Trauma liegt, unter den Anpassungen, unter deinem scheinbar funktionierenden "Ich bin okay".

 

Es ging nie darum, jemand Neues zu werden. Das war die Illusion. Die Inszenierung von Heilung. Das endlose Rennen im Kreis. Die Wahrheit liegt im Stillwerden. In dem rauen, unangenehmen Moment, in dem du einfach aufhörst zu laufen. In dem du keine Rollen mehr brauchst. Keine Erklärungen. Keine Schutzstrategien.

 

Und dort, in dieser Stille, hörst du es: dein eigenes Signal. Das Signal, das unter jedem Symptom liegt. Das deinen Körper anspannen lässt bei bestimmten Menschen. Das dich von allem Guten wegstößt und an allem festhalten lässt, was weh tut. Das jede Schleife erzeugt hat, nicht weil du verflucht bist, sondern weil du treu warst. Dir selbst. Deiner Prägung.

 

Und vielleicht, genau jetzt, darfst du dich fragen: Was passiert eigentlich, wenn ich aufhöre zu rennen? Nicht nur vor dem Schmerz. Sondern vor mir? Was, wenn es nie um Optimierung ging, sondern um Erinnerung?

 

Das ist die Arbeit. Nicht besser werden. Nicht mehr leisten. Sondern zurückkehren. Zu dir.

 

Joe Turan 

🌐 www.joeturan.com

 

Wenn dir mein Content gefällt, unterstütze mich, indem du mir auf Instagram folgst:

 

IG: @joeturan1

 

Hier geht’s zu meinem Profil:

www.instagram.com/joeturan1

 

Danke 💚

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.