Die radikale Freiheit der Selbstwahrhaftigkeit

Veröffentlicht am 30. August 2025 um 22:24

„Und vor allem schäme dich nicht so sehr deiner selbst, denn das ist die Wurzel von allem… Du weißt schon lange, was du tun musst. Du hast genug Verstand: Gib dich nicht dem Trunk und der Zügellosigkeit im Reden hin; gib dich nicht der fleischlichen Lust hin; und vor allem nicht der Liebe zum Geld. Und schließ deine Kneipen. Wenn du nicht alle schließen kannst, dann wenigstens zwei oder drei. Und vor allem lüg nicht… Vor allem, belüge dich nicht selbst. Der Mensch, der sich selbst belügt und seiner eigenen Lüge zuhört, gelangt so weit, dass er die Wahrheit in sich und um sich herum nicht mehr unterscheiden kann, und verliert so allen Respekt sich selbst gegenüber und auch gegenüber anderen. Und ohne Respekt hört er auf zu lieben. Und um sich ohne Liebe zu beschäftigen und abzulenken, gibt er sich Leidenschaften und groben Vergnügungen hin und sinkt in die Tierhaftigkeit seiner Laster alles wegen des ständigen Lügens, gegenüber anderen und sich selbst.

 

Der Mensch, der sich selbst belügt, ist leichter beleidigt als jeder andere. Du weißt, es ist manchmal sehr angenehm, sich beleidigt zu fühlen, nicht wahr? Ein Mensch kann wissen, dass ihn niemand beleidigt hat, aber er hat sich die Beleidigung selbst ausgedacht, hat gelogen und übertrieben, um sie anschaulicher zu machen, hat sich an einem Wort festgekrallt und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht – er weiß das selbst, und doch ist er der Erste, der sich verletzt fühlt, und suhlt sich in seinem Groll, bis er Freude daran findet, und gleitet so in echten Groll über. Aber steh auf, setz dich, ich bitte dich. Auch das alles ist nur ein trügerisches Getue...“

 

Dieser Text stammt aus Fjodor Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow, gesprochen von dem weisen Mönch und spirituellen Lehrer Pater Sosima.

 

Was wir daraus lernen können, ist zeitlos und tief:

Die größte Gefahr liegt nicht im Außen, sondern in der Selbstverleugnung. Wenn wir uns selbst belügen, verlieren wir die Verbindung zur Wahrheit, zu uns selbst, zu anderen und schließlich zur Liebe. Wir flüchten in Groll, in Ablenkung, in Scheinwelten.

 

Wie lernt man das konkret. Begrenze die Reize, die dich zuverlässig von der Wahrheit wegziehen. Baue tägliche, kurze Selbstprüfung ein, nicht heroisch, sondern nüchtern: Was habe ich heute beschönigt. Wem schulde ich eine Korrektur. Sag eine kleine, unangenehme Wahrheit pro Tag, freundlich und klar. Übe Schweigen, besonders wenn das Impulswort schon auf der Zunge liegt. Schreib die Rohversion dessen auf, was du wirklich denkst, bevor du es polierst. Hol dir einen Menschen, dem du wöchentlich ungefiltert berichtest, wo du dir selbst auf die Schliche gekommen bist. Und wenn du merkst, du hast gelogen, stoppe, benenne es, repariere. Das ist keine Niederlage, sondern Muskelaufbau.

 

Dostojewski ist hier radikal, weil er Freiheit an Wahrhaftigkeit knüpft. Nicht an Erfolg, nicht an Makellosigkeit. Wer sich selbst nicht mehr belügen muss, verschwendet weniger Energie an Fassade, verträgt Ambivalenz besser und liebt leichter, weil nichts mehr getarnt werden muss. Das ist die eigentliche Askese: weniger Flucht, mehr Wirklichkeit.

 

Joe Turan

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