
Was meinte Friedrich Nietzsche, als er sagte, der Mensch sei ein Seil, gespannt zwischen Tier und Übermensch? Dieses Zitat stammt aus seinem berühmten Buch „Also sprach Zarathustra“ aus dem Jahr 1883. Um dieses Zitat wirklich zu verstehen, müssen wir jedoch etwas herauszoomen.
Nietzsche sah den Menschen nicht als fertiges Produkt. Er sah den Menschen als gefährliches Experiment. Er sagte, wir sind weder Götter noch Tiere. Wir sind eigentlich etwas dazwischen. Und noch wichtiger: etwas im Übergang. Der Mensch ist eine Brücke, kein Ziel. Die Größe des Menschen liegt darin, dass er eine Brücke ist, kein Ende.
Was sagt er also mit all dem? Er will uns vermitteln, dass wir nicht dazu bestimmt sind, dort zu bleiben, wo wir im Leben stehen. Wir sind dazu bestimmt, uns zu überwinden.
Nietzsche gab uns eine der am meisten missverstandenen Ideen der modernen Philosophie, als er schrieb: "Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch." Es klingt zunächst abstrakt, ist aber eine Einladung, etwas zutiefst Menschliches zu konfrontieren.
Er sah die Menschheit als ein Experiment. Nicht fertig, nicht vollkommen, sondern im Übergang. Wir sind keine Tiere, die nur von Instinkt und Komfort getrieben werden. Wir sind auch nicht göttlich, erleuchtet oder vollständig. Wir leben aufgehängt zwischen zwei Zuständen: woher wir kommen und was wir vielleicht werden.
Dieses Seil, dieser Übergang, erfordert Bewegung. Das war Nietzsches Provokation. Er beschrieb die Menschheit als Brücke, nicht als endgültige Form. Wenn wir versuchen, an Stabilität festzuhalten, als wäre sie unsere wahre Natur, verlieren wir das Wesen des Menschseins. Mensch zu sein bedeutet, Bewegung zu riskieren, auf etwas Unsicheres zuzugehen, sich zu entscheiden, sich zu entwickeln, auch wenn es sich unsicher anfühlt.
Auf einer Seite dieses Seils liegt das Tier, unsere geerbten Triebe nach Sicherheit, Fortpflanzung, Status und Komfort. Auf der anderen Seite liegt der Übermensch, der "höhere Mensch", der Bedeutung erschafft, anstatt sie zu erben, der Werte gestaltet, anstatt ihnen blind zu folgen, und der das Leben bejaht, selbst wenn es chaotisch und schmerzhaft ist. Der Übermensch ist kein Superheld oder perfektes Wesen. Er ist ein Bild dafür, wie es aussieht, wenn jemand Verantwortung für die Existenz in ihrer rohesten Form übernimmt, die Realität ohne Illusionen ansieht und dennoch Ja zum Leben sagt.
Unter dem Seil liegt das, was Nietzsche den Abgrund nannte: der Sog des Nihilismus, der Verzweiflung und des Bedeutungsverlusts. Wenn Menschen aufhören, sich zu bewegen, wenn sie die schwierige Aufgabe des Werdens aufgeben, riskieren sie, zu fallen. Einige brechen zusammen in Apathie oder Selbstzerstörung. Andere klammern sich an Illusionen von Sicherheit und verwechseln Stillstand mit Stabilität. Für Nietzsche bedeutet Leben, trotz des Risikos weiterzugehen. Es gibt keine Garantie, das andere Ende zu erreichen. Es könnte überhaupt kein Endpunkt existieren. Die Handlung des Gehens selbst ist die Bedeutung.
Das ist kein fernes theoretisches Problem. Man sieht es, wenn jemand in einem Job bleibt, der ihn erstickt, weil Sicherheit leichter erscheint als Risiko. Man sieht es, wenn jemand Intimität vermeidet, weil Verletzlichkeit zu gefährlich erscheint. Man sieht es, wenn eine Person sich mit Bildschirmen, Substanzen oder endloser Geschäftigkeit betäubt, anstatt sich der Angst vor Veränderung zu stellen. Man sieht es in dir selbst, wenn du bemerkst, wie viel Energie darauf verwendet wird, Unbehagen zu vermeiden, anstatt auf Wachstum zuzugehen. Jedes Mal, wenn du dich dem Unbekannten stellst, gehst du auf dieses Seil, mit dem Abgrund darunter und der Möglichkeit von Transformation vor dir.
Nietzsche warnte uns, dass Komfort uns in einem halblebigen Leben gefangen halten kann. Wenn wir eine Brücke sind, sind wir dazu bestimmt, überquert zu werden. Das ist unsere Würde und unsere Last. Wir sind nicht hier, um an dem festzuhalten, was wir bereits sind. Wir sind hier, um das Risiko einzugehen, das zu werden, was wir vielleicht sein könnten.
Die Frage betrifft nicht mehr Nietzsche oder seine Epoche. Sie ist persönlich. Wirst du dein Seil überqueren? Wirst du Wachstum wählen, auch wenn es unsicher und unbequem ist? Der Abgrund ist real, aber ebenso die Möglichkeit, etwas zu werden, das du dir noch nicht einmal vorgestellt hast.
Joe Turan
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