
Was, wenn alles, was du über sexuelles Verlangen glaubst, falsch ist?
Was, wenn Erregung nicht der Anfang von Intimität ist, sondern etwas, das erst entsteht, wenn du dich darauf einlässt?
Die meisten Menschen haben eine verzerrte Regel über Sex verinnerlicht: Erregung muss vor der Handlung kommen. Wenn du nicht schon vor Lust vibrierst, sei es irgendwie unehrlich, Sex zu initiieren. Und wenn du nicht "in Stimmung" bist, dann wäre es ein Schauspiel oder sogar ein Akt der Selbstverleugnung, weiterzumachen.
Dieser Glaube ist nicht nur falsch. Er ist schädlich.
Wir brauchen keine vorherige Aufregung, um Dinge zu tun, die gut für uns sind. Du lässt das Fitnessstudio nicht ausfallen, nur weil du vorher nicht voller Endorphine bist. Du sagst ein Abendessen mit einem Freund nicht ab, nur weil du dich nicht freudig darauf einstimmst. Du gehst hin, und oft kommt die Belohnung währenddessen oder danach. Die Motivation wächst mit der Handlung. Das nennt man responsive desire, ein Konzept, das sowohl durch Forschung als auch durch klinische Erfahrung gestützt wird.
Sex funktioniert genauso, besonders in langfristigen Beziehungen und besonders, wenn man gestresst, innerlich distanziert oder müde ist.
Nimm das Fitnessstudio als Beispiel. Manchmal will ich einfach nicht hin. Ich bin nicht motiviert. Ich würde lieber im Bett bleiben oder an meinem Handy kleben. Aber ich gehe trotzdem, nicht weil ich mich zwinge, sondern weil ich etwas gelernt habe: Verlangen folgt oft der Handlung, nicht andersherum. Und fast jedes Mal fühle ich mich danach großartig. Stärker. Geerdeter. Klarer. Wieder verbunden mit meinem Körper. Kein einziges Mal habe ich es bereut, so für mich selbst da gewesen zu sein.
Sexuelle Energie reagiert genauso. Sie klopft nicht immer vorher an. Manchmal wartet sie darauf, eingeladen zu werden.
Responsive desire ist die Art von Verlangen, die durch Berührung, emotionale Verbindung, Sicherheit und Gesehenwerden entsteht. Sie ist nicht spontan. Sie überfällt dich nicht aus dem Nichts, wie es vielleicht in der Verliebtheitsphase war. Und das ist normal. Für viele Menschen, gerade in langfristigen Beziehungen, ist responsive desire die Hauptform von Erregung.
Der Mythos, dass man vor dem Sex bereits Verlangen spüren sollte, hält Paare in langen Durststrecken gefangen. Warum? Weil sie auf etwas warten, das sich erst zeigt, wenn sie bereits Ja gesagt haben. Es ist, als würde man erwarten, zu schwitzen, bevor man überhaupt mit dem Laufen beginnt.
Schauen wir genauer hin.
Was passiert, wenn man nur Sex hat, wenn man bereits erregt ist?
Man konditioniert sich selbst darauf, Berührung nur zuzulassen, wenn bereits Verlangen da ist. Das führt zu weniger körperlicher Nähe, weniger Experimentieren, weniger Neuem, und ironischerweise zu weniger Verlangen. Sex wird selten. Irgendwann erzeugt allein der Gedanke daran Druck oder Frust. Verlangen fühlt sich dann an wie eine hohe Hürde, statt wie ein fließender, zugänglicher Zustand. Warum also setzen wir Intimität an einen unrealistischen Maßstab?
Vergleiche das mit jemandem, der sagt: "Ich bin gerade nicht mega scharf, aber ich fühle mich dir emotional nah, und ich bin neugierig, wohin das führen könnte. Ich bin offen."
Dieses eine Wort, "offen", verändert alles.
Sexuelle Energie reagiert wunderbar auf Neugier und Erlaubnis. Erregung folgt oft der Handlung, nicht umgekehrt. Wenn Partner*innen aus einem Zustand der Offenheit Ja sagen können, nicht aus Pflichtgefühl oder vorgetäuschter Begeisterung, sondern aus echter Offenheit, entsteht eine Lebendigkeit, die nichts mit Leistung oder Druck zu tun hat. Sondern mit geteilter Präsenz.
Das heißt nicht, Ja zu sagen, wenn du eigentlich Nein meinst.
Es geht nicht darum, eigene Grenzen zu übergehen oder in Gefallsucht zu verfallen. Wenn dein Körper Nein sagt oder dein System überfordert ist, ist das Intimste, was du tun kannst, dieses Nein zu respektieren.
Aber wenn dein Widerstand daher kommt, dass du dich taub, abgelenkt, müde oder neutral fühlst, und nicht klar ablehnend, dann kann es kraftvoll sein, dich sanft zurück in Verbindung einzuladen.
Viele Menschen, besonders Frauen, haben gelernt, auf Verlangen zu warten, bevor sie Sex zulassen. Aber Verlangen ist nicht passiv. Es ist responsiv. Es ist beziehungsorientiert. Es zeigt sich, wenn das Nervensystem sich sicher fühlt und der Körper Erkundung, nicht Leistung, erlaubt bekommt.
Die bessere Frage lautet also:
Bin ich bereit, jetzt berührt zu werden?
Bin ich offen dafür, dass Lust auftaucht, auch wenn ich sie gerade nicht fühle?
Fühle ich mich emotional sicher genug, um mich in diesen Moment hinein zu entspannen?
Wenn du diese Fragen mit Ja, oder sogar "vielleicht", beantworten kannst, bist du bereits auf dem Weg.
Sexuelle Gesundheit hat nichts mit Performance zu tun. Sie hat mit Initiative zu tun.
Initiative aus einem neutralen Zustand heraus ist eine reife Fähigkeit. Sie erfordert, dass du nicht nur die Bedürfnisse deines Partners spürst, sondern auch deine eigenen Möglichkeiten. Du musst nicht vor Verlangen überquellen. Du musst nur reguliert genug sein, um es empfangen zu können.
Das durchbricht auch die geschlechtsspezifischen Annahmen, dass Männer immer zuerst Verlangen hätten oder dass Frauen passive Empfängerinnen seien. Viele Männer kämpfen ebenso mit responsive desire. Auch sie können davon profitieren, sich daran zu erinnern, dass körperliche Berührung und emotionale Verbindung Erregung erzeugen.
Wir brauchen eine neue Definition von sexueller Bereitschaft. Eine, die Offenheit, Vertrauen, Sicherheit, Neugier und Einvernehmlichkeit mit einbezieht, nicht nur spontanes Verlangen. Das senkt die Messlatte nicht. Es hebt sie an und verankert sie in etwas Echtem.
Versuche Folgendes:
Wenn du dich deinem Partner emotional nah fühlst, aber nicht unbedingt sexuell aufgeladen, frage dich:
"Würde ich es gerade genießen, körperlich nah zu sein, auch wenn es nicht zu Sex führt?"
"Würde ich es genießen, zu berühren oder berührt zu werden, wenn es langsam, druckfrei und sicher wäre?"
"Bin ich offen dafür zu entdecken, wie sich mein Körper in diesem Moment anfühlt?"
Wenn die Antwort Ja ist, mach den nächsten Schritt. Nicht weil du musst, sondern weil du darfst, auch dann, wenn du noch nicht weißt, wohin es führt.
Denn niemand sollte sich "wahnsinnig erregt" fühlen müssen, um Nähe zuzulassen.
Du darfst bei neutral beginnen. Das ist kein Kompromiss. Das ist die Grundlage für langfristigen, nachhaltigen, wirklich befriedigenden Sex.
Joe Turan
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