Wenn du es weiter "Faulheit" nennst, wirst du weiter versuchen, es mit Scham zu beheben. 

Veröffentlicht am 3. Oktober 2025 um 17:33

Was, wenn das eigentliche Problem nicht Disziplin ist, sondern die Kapazität deines Nervensystems?

 

Wir sprechen viel über Disziplin. Routinen, Willenskraft, Gewohnheiten, Beständigkeit. Überall. Disziplin verkauft sich gut. Sie gibt uns das Gefühl, Kontrolle zu haben. Wenn etwas nicht funktioniert, ist das meistens der erste Gedanke: "Ich brauche mehr Disziplin." Also suchen Menschen nach besseren Planern, stärkeren Morgenroutinen, strikteren Kalendern. Sie bestrafen sich mit Struktur. Und wenn die Struktur nicht hält, beginnt die Selbstvorwurfs-Spirale.

 

Was wir kaum ansprechen, ist Kapazität.

 

Kapazität hat nichts damit zu tun, wie sehr du etwas willst. Es geht nicht um Willenskraft. Es geht darum, ob dein Körper, dein Gehirn und dein emotionales System genug Energie haben, um das zu tragen, was du von ihnen verlangst. Ob dein System genug Ressourcen hat, um überhaupt anfangen zu können.

 

Disziplin ist Entscheidung. Kapazität ist Fähigkeit.

 

Viele Menschen denken, sie hätten ein Disziplinproblem. Sie sagen Dinge wie: "Ich muss mich nur besser konzentrieren", "Ich muss härter durchziehen" oder "Früher habe ich mehr mit weniger geschafft." Was sie dabei übersehen, ist der Preis, den es kostet, auf Reserve zu laufen. Klar, vielleicht hast du mehr mit weniger geschafft. Aber zu welchem Preis? Adrenalin ist kein nachhaltiger Treibstoff. Scham auch nicht. Und der Überlebensmodus schon gar nicht.

 

Wenn du dich durch Erschöpfung, Trauer, chronische Anspannung oder Burnout durchkämpfst, bist du nicht undiszipliniert. Du überschreitest deine Grenzen.

 

Die Grundlage jeder Beständigkeit ist ein reguliertes Nervensystem. Wenn dein System im Kampf-, Flucht- oder Kollapsmodus ist, hilft dir kein Planer der Welt. Du kannst dich nicht aus Erschöpfung herausorganisieren. Kein Zeitplan der Welt repariert einen Körper, der sich unsicher, unterernährt, überreizt oder emotional verhungert fühlt.

 

Disziplin ist eine Funktion von Klarheit, Grenzen und fokussierter Aufmerksamkeit.

Kapazität ist eine Funktion von Nervensystemregulation, emotionaler Integration und körperlicher Wiederherstellung.

 

Wenn dein Körper ständig sagt: "Ich bin müde, ich kann nicht" und du antwortest mit "Reiss dich zusammen", trainierst du Selbstverrat. Nicht Resilienz. So wird chronischer Stress zu chronischer Krankheit. So wird aus "einer harten Woche" ein fünfjähriger Burnout. So bricht Kapazität völlig zusammen.

 

Wenn du Kapazität ignorierst, wird Disziplin zur Strafe.

 

Hier wird es differenzierter.

Wenn du eine Aufgabe vermeidest, von der du weißt, dass du sie bewältigen kannst, und du bist versorgt, dann hast du möglicherweise ein Disziplinproblem. Das zeigt sich als Aufschieben, Ablenkung, emotionale Vermeidung, innerer Widerstand. Es geht dann nicht mehr um Energie. Es geht um Unlust. Du weißt, was zu tun ist, aber du willst das Gefühl nicht fühlen, das dabei aufkommt. In solchen Momenten hilft Struktur. Auch Verpflichtung, Fokus, klare Grenzen und eine Form von Verantwortung, die nicht beschämt.

 

Die meisten versuchen aber, Kapazitätsprobleme mit Disziplinwerkzeugen zu lösen.

Sie verdoppeln ihre Produktivitätsversuche.

Sie schreiben bessere To-Do-Listen.

Sie installieren neue Apps.

Sie geben ihrer Motivation die Schuld.

 

Währenddessen schreit ihr Körper: "Ich brauche Schlaf. Ich brauche Raum für Trauer. Ich brauche Ruhe, Stille, Nahrung, Natur, Verbindung. Weniger Lärm. Zeit zum Verdauen."

Aber diese Botschaften passen nicht zum Hustle-Mindset. Also werden sie ignoriert.

 

Wenn du deine To-Do-Liste ständig neu schreibst, aber nichts anfangen kannst, bist du vielleicht nicht faul. Du bist vielleicht erschöpft. Du bist vielleicht ausgebrannt. Und das System, dem du vorwirfst, nicht hart genug zu arbeiten, ist das gleiche System, dem du jede Erholung verweigerst.

 

Wie sieht das also im Alltag aus?

 

Um deine Kapazität zu unterstützen, versuche Folgendes:

 

-Iss eine vollwertige Mahlzeit ohne Multitasking.

 

-Sag einen nicht dringenden Termin ab, der dich auslaugt.

 

-Setz dich 10 Minuten still hin, bevor dein Tag beginnt.

 

-Sag: "Ich brauche mehr Zeit" und lass das genügen.

 

-Dehne dich, bevor du Mails liest.

 

-Weine, wenn du es brauchst.

 

Um deine Disziplin zu stärken, versuche Folgendes:

 

-Wähle drei Aufgaben, nicht zwölf.

 

-Stell einen fünfminütigen Timer und fang einfach an.

 

-Nutze visuelle Hinweise, um Entscheidungen zu reduzieren.

 

-Plane am Abend zuvor.

 

-Miss deinen Einsatz, nicht nur das Ergebnis.

 

-Halte dich selbst verantwortlich mit Freundlichkeit, nicht Kritik.

 

Kapazität bedeutet Fürsorge. Disziplin bedeutet Anstrengung.

Du brauchst beides. Aber die Reihenfolge ist entscheidend.

 

Bau keine Struktur auf Erschöpfung. Erwarte keine Leistung von einem System, das nicht wieder aufgebaut wurde. Wenn dein Fundament Risse hat, hält selbst die stärkste Disziplin nicht.

 

Wenn du nachhaltig arbeiten, dich geerdeter fühlen und für die wirklich wichtigen Dinge auftauchen willst, musst du aufhören, gegen dich selbst zu kämpfen. Du musst lernen zuzuhören. Nicht jeder "Block" ist ein Willensproblem. Manchmal ist es ein Ruf nach Reparatur.

 

Erst Fürsorge. Dann Struktur.

 

Joe Turan

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