
Was, wenn alles, was dir über Sex beigebracht wurde von Religion, Kultur oder sogar moderner Spiritualität das zentrale Thema verfehlt?
Das Thema ist nicht Lust. Nicht Häufigkeit oder Moral.
Es ist Bewusstheit.
Sex hat das Potenzial, deine Präsenz zu vertiefen oder sie aufzulösen. Dein Bewusstsein zu wecken oder es zu betäuben. Dich in deinem Körper zu verankern oder dich daraus herauszuschleudern. Er kann zur ehrlichsten Form der Selbstbegegnung werden, oder zur raffiniertesten Fluchtmöglichkeit.
Lass uns ehrlich sein: Sex, in seiner rohen biologischen Form, ist eine von der Natur programmierte Sucht. Er ist so konzipiert, dass er dich heftig hineinzieht. Denn wenn Menschen nicht von einer inneren Kraft zur Fortpflanzung getrieben wären, gäbe es uns längst nicht mehr. Diese Kraft funktioniert über Lust. Und diese Lust hat, wenn sie nicht bewusst gehalten wird, die Tendenz, das Denken zu übernehmen. Du wählst sie nicht. Sie wählt dich. Das macht sie gefährlich für dein Bewusstsein.
Du hast es wahrscheinlich selbst erlebt. Der Moment, in dem Erregung einsetzt und Aufmerksamkeit zusammenbricht. Du bist nicht mehr präsent. Du wirst bewegt. Du gehst dorthin, wo der Körper hinwill. Oder dein Verstand übernimmt, mit Geschichten, Fantasien, Projektionen. So oder so: du bist nicht hier. Du bist weg.
Das ist der Punkt: Sex macht oft unbewusst.
Und Unbewusstheit ist der Feind jeder Entwicklung.
Die Frage ist also nicht: "Ist Lust gut oder schlecht?"
Die eigentliche Frage lautet: Führt dieser Akt zu mehr oder weniger Bewusstsein?
Wenn Sex zu einer zwanghaften Suche nach Erfüllung wird, wird er zur Sucht. Nicht im übertragenen Sinne, sondern im klinischen. Eine Schleife. Ein Fix. Ein mentales Programm, das feuert, weil es etwas sucht, das es dort nicht finden kann.
Deshalb jagen Menschen nach mehr. Mehr Partnern. Mehr Kink. Mehr Reiz. Weil sie eine Erfüllung suchen, die durch sexuelle Aktivität allein nicht erreichbar ist. Sie benutzen den Akt, um eine Leere zu füllen, die nur Präsenz füllen kann.
Die Ironie? Je mehr sie jagen, desto unbewusster werden sie.
Was Tantra wirklich lehrt (nicht die kommerzielle Version)
Tantra geht nicht um Techniken, Performance oder längeren Orgasmus. Die ursprünglichen Lehren waren radikaler und deutlich unbequemer.
Tantra bedeutet: bring Bewusstheit in das, was dich sonst unbewusst macht.
Du läufst nicht vor dem Verlangen davon. Du folgst ihm nicht blind. Du begegnest ihm. Direkt. Mit Klarheit. Mit Ehrlichkeit. Mit der vollen Kapazität deiner Aufmerksamkeit.
Du siehst jemanden, der dich anzieht. Du spürst die sexuelle Ladung in deinem Körper. Anstatt darauf zu reagieren oder sie zu unterdrücken, hältst du inne. Du beobachtest. Du lässt die Energie aufsteigen und du tust nichts. Du beobachtest.
Dieser Moment dieses Innehalten ist der Beginn von Transformation.
Denn jetzt übernimmt die Energie nicht mehr. Sie wird zu etwas, das du wahrnimmst. Nicht etwas, das du bist.
Du musst sie nicht unterdrücken. Das wurde über Jahrhunderte in religiösen Traditionen versucht: Mönche, Zölibat, Asketen. Und es geht nach hinten los. Unterdrückung entfernt nicht das Verlangen. Sie verzerrt es. Drück es lange genug runter und es sickert seitlich wieder raus. In Träumen. In Scham. In Obsession. Oder in zerstörerischer Form.
Das andere Extrem blinde Hingabe funktioniert auch nicht. Jeden Abend jemand Neues, Jagd nach Reiz, verkauft als Befreiung. Das ist nur ein anderes Muster der Unbewusstheit. Du bist immer noch nicht da. Du wirst immer noch bewegt.
Tantra sagt: Hör auf, dich zu bewegen.
Bewusstheit ist keine Unterdrückung. Sie ist Raum.
Stell es dir vor. Ein Verlangen steigt auf. Sexuell, emotional, sinnlich. Anstatt es dich übernehmen zu lassen, bleibst du still. Du lässt die Welle kommen. Du lässt sie in dir existieren. Du verurteilst sie nicht. Du unterdrückst sie nicht. Du jagst ihr nicht hinterher. Du hältst sie in deinem Bewusstsein.
Und irgendwann manchmal schnell, manchmal langsam bricht die Welle. Sie vergeht. Du bist noch da.
Das ist die tiefere Funktion von Bewusstheit. Sie kämpft nicht. Sie kontrolliert nicht. Sie hält.
Sie schafft genug inneren Raum, dass Impulse dich nicht mehr besitzen. Sie tauchen auf, sie existieren, sie vergehen wie Wetter in einem Himmel, der keine Wolke festhält.
Du wirst zum Himmel. Nicht zum Sturm.
Deshalb ist wahre Bewusstheit so anders als Widerstand. Du drückst das Gefühl nicht weg. Du tust nicht so, als wäre es nicht da. Du lässt es in seiner vollen Intensität auftauchen und bleibst wach, während es geschieht.
Und das gilt weit über Sex hinaus.
Dasselbe Prinzip gilt für jedes süchtige Ziehen
Überessen. Rauchen. Shoppen. Pornokonsum. Drogen. Kühlschrankbesuche um Mitternacht. Zwanghaftes Scrollen. Wenn all das ohne Bewusstheit geschieht, wird es zur Tür in die Unbewusstheit.
Aber jede einzelne davon kann auch zur spirituellen Praxis werden.
Stell dir vor, du stehst nachts um 1 vor dem Kühlschrank. Du erinnerst dich nicht einmal daran, aufgestanden zu sein. Deine Hand liegt schon auf dem Griff. Du bist halb im Schlaf. Und dann passiert es: du wachst auf. Genau in diesem Moment. Du wirst dir bewusst, was passiert. Du spürst das Verlangen. Du spürst das Ziehen. Und du tust nichts.
Dieses Innehalten? Das ist der Moment der Freiheit. Du setzt dich. Du fühlst es. Du kämpfst nicht. Du fütterst es nicht. Du beobachtest.
Manchmal vergeht es. Manchmal nicht. Vielleicht isst du trotzdem den Kuchen. Aber jetzt bist du bewusst. Du hast die Beziehung verändert. Du wirst nicht mehr besessen. Und das verändert alles.
Dasselbe gilt für Sex. Du spürst ein Verlangen. Du atmest. Du bemerkst es. Du reagierst nicht automatisch. Du unterdrückst es nicht aus Schuld. Du lässt es sich in dir bewegen. Vollständig. Wach.
Das ist die Praxis. Und sie ist nicht theoretisch. Sie ist brutal praktisch. Sie ist unbequem. Sie bricht Muster. Und sie macht dich frei.
Verwechsle mentale Fantasie nicht mit körperlichem Verlangen
Noch ein entscheidender Punkt.
Ein Großteil moderner Sexualität ist kopfgesteuert, nicht körperbasiert. Das bedeutet: Die Fantasie im Kopf treibt die Erregung stärker an als der reale Mensch oder das reale Erleben.
Das ist gefährlich. Denn es hält dich in mentalen Schleifen gefangen. Du beziehst dich nicht mehr auf reale Menschen. Du beziehst dich auf projizierte Bilder, auf Bedeutungen, auf Idealisierungen. Und diese Schleife – Gedanke → Erregung → Fantasie → Handlung – kann dich die ganze Nacht wachhalten. Dein Körper ist müde. Aber dein Verstand ist sexuell aktiviert.
Durchbrich die Verbindung zwischen Gedanken und sexuellem Impuls.
Spüre den Körper. Nicht das Bild. Nicht die Geschichte. Die Empfindung.
Das ist, was dich im Hier und Jetzt verankert. Das ist, was die Sucht-Schleife unterbricht.
Sex ist weder heilig noch sündig. Er ist Energie. Was bestimmt, ob er dein Bewusstsein erweitert oder einschränkt, ist, wie gegenwärtig du darin bist.
Wenn du Bewusstheit in dein sexuelles Leben bringst nicht als Technik, sondern als Haltung hört Sex auf, eine Flucht zu sein. Er wird zum Spiegel.
Verlangen ist nicht der Feind. Unbewusstheit ist es.
Also das nächste Mal, wenn ein Impuls kommt sexuell oder anders – handle nicht. Kämpfe nicht. Bleib. Beobachte. Atme.
Das ist keine Verleugnung. Keine Hingabe.
Das ist Freiheit.
Sex ist nicht das Problem. Unbewusstheit ist es.
In dem Moment, in dem du ein Verlangen fühlen kannst, ohne davon übernommen zu werden, bist du kein Sklave mehr.
Du bist wach.
Und das verändert alles.
Joe Turan
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