
Viele Menschen glauben, sie hätten ein Problem mit zu viel Lust. Was sie in Wahrheit haben, ist ein Nervensystem, das nie gelernt hat, in Ruhe sicher zu sein.
Es handelt sich um eine Anpassung des Nervensystems. Das Bedürfnis nach Berührung, nach Intensität, nach Reizen es entsteht oft in Umgebungen, in denen emotionale Präsenz inkonsistent oder gar nicht vorhanden war.
Hypersexualität wird häufig falsch dargestellt als Übermaß. In klinischen Begriffen ist sie meist eine Regulationsstrategie. Das Verhalten dreht sich nicht primär um Lust, sondern um Erleichterung. Kurzfristige physiologische Entlastung. Ein Nervensystem, das gelernt hat, sich durch Intensität zu beruhigen, nicht durch Sicherheit.
Oft beginnt das früh. Wenn primäre Bezugspersonen emotionale Bedürfnisse nicht wahrgenommen haben, musste das Kind sich selbst beruhigen. Allein. Mit der Zeit beginnt der Körper, körperliche Nähe mit Stressabbau zu verbinden auch wenn die Verbindung oberflächlich oder kurzlebig ist.
Das Problem ist nicht das Begehren. Es ist die Dysregulation. Der Körper erinnert sich an das, was fehlte, und versucht, es durch etwas Sensorisches zu kompensieren. Wenn das zur Gewohnheit wird, entwickelt das Gehirn eine Schleife: Unbehagen entsteht, sexuelles Verhalten folgt, vorübergehende Erleichterung tritt ein, aber der emotionale Zustand bleibt ungelöst. Im Lauf der Zeit wird das System darauf programmiert, Dringlichkeit mit Verbindung gleichzusetzen.
Am Ende wird Ruhe selbst bedrohlich. Das Fehlen von Reizen fühlt sich wie Vernachlässigung an, auch wenn keine tatsächliche Gefahr besteht. Das ist kein Charakterfehler. Es ist eine gelernte physiologische Reaktion.
Scham entsteht, weil der Mensch oft weiß, dass das Muster nicht funktioniert, aber keinen anderen Weg zur Regulation kennt. Die Erleichterung ist real, aber sie löst den Grundzustand nicht. Das Nervensystem bleibt unter der Oberfläche aktiviert. Sexuelles Verhalten bringt einen Regulationsimpuls, gefolgt von einem Absturz in Verwirrung oder Dissoziation.
Was hilft, ist das Unterbrechen der Schleife. Nicht durch Unterdrückung, sondern durch Neugier. Verlangsamung. Den Körper beobachten. Die tatsächlichen Empfindungen benennen. Ist das Angst? Trauer? Dissoziation? Verlangen? Es benennen ohne moralisches Urteil öffnet Raum für andere Regulationsmuster.
Physiologische Sicherheit entsteht nicht durch Intensität. Sie entsteht durch Ko-Regulation, durch Präsenz ohne Druck. Manchmal ist das Berührung. Manchmal ist es gesehen zu werden. Manchmal ist es einfach das Nicht-Handeln auf den Impuls – und zu bemerken, was darunter liegt.
Heilung bedeutet hier nicht, mit Sex aufzuhören. Es geht darum, seine Funktion zu verstehen. Wenn das Verhalten etwas Tieferes reguliert, muss es durch etwas ersetzt werden, das eine vergleichbare Regulation bietet. Atemarbeit. Erdende Berührung. Blickkontakt. Traumainformierte Bewegung. Zwischenmenschliche Abstimmung.
Mit der Zeit kann das Nervensystem lernen, zwischen Stimulation und Sicherheit zu unterscheiden. Der Körper hört auf, das Fehlen von Erregung als Gefahr zu interpretieren. Sexualität wird wieder eine Wahl, kein Zwang. Und das Gefühl von Handlungshoheit kehrt zurück.
Das ist Neuroplastizität in der Praxis. Es ist das langsame Umverdrahten eines Systems, das auf Überleben eingestellt war jetzt lernt es Sicherheit, Beständigkeit und Präsenz. Die Trauer, die dabei auftaucht, gehört dazu. Nicht weil etwas verloren geht, sondern weil etwas nie gegeben wurde.
Das Verständnis dafür ersetzt den moralischen Blick durch einen klinischen. Du bist nicht kaputt. Du passt dich an. Und diese Anpassung kann neu gestaltet werden.
Genau da beginnt Therapie.
Joe Turan
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